Flüchtlingsunterkünfte gibt es in der Metropolregion Rhein-Neckar einige. Aber die Wenigsten wissen, dass die Willkommenskultur im Südwesten weit bis in die Nachkriegszeit zurückreicht: 1948 baute Egon Eiermann auf Betreiben des Hettinger Pfarrers Heinrich Magnani Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten eine neue Heimat. Und brachte gleichzeitig ein Stück Großstadtmoderne mit in den Odenwald.

Egon Eiermann war angekommen. Nicht nur, weil er zu Fuß über 500 Kilometer von Beelitz bis Buchen durch das kriegszerstörte Land gegangen und endlich in der Heimatstadt seines Vaters gelandet war. Schon nach wenigen Wochen bekam der Architekt unverhofft Arbeit: „Es ist unwahrscheinlich, welche Möglichkeiten sich in diesem Nest aufgetan haben“, schrieb er im April 1946 begeistert an seine Frau Charlotte an den Bodensee. Da hatte ihn längst der Buchener Bürgermeister Franz Xaver Schmerbeck als städtischen Bauberater engagiert und auch noch kurze Zeit später für die Staatliche Bauberatungsstelle der Landkreise Buchen, Mosbach und Walldürn empfohlen.

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Kein Provisorium: Ein Blick in das Eiermann-Magnani-Haus. (Lied: Ketsa: „Night whispers“)

Es ist kalt an diesem Morgen in Buchen-Hettingen. Aber die roten Ziegelsteine, die Egon Eiermann kurz nach dem Krieg verbauen ließ, leuchten in der Wintersonne warm. „Sie sind bestimmt das erste, das Ihnen aufgefallen ist“, sagt Hans-Eberhard Müller zur Begrüßung und deutet mit einem Lächeln auf das schöne, schlichte Fassadenmuster. Nur wenige Schritte und man steht mitten drin, in dem kleinen Siedlungshaus, das sein Verein als sogenannte Eiermann-Magnani-Dokumentationsstätte betreibt.

Ein heller Wohnbereich, eine nüchterne Küche, ein kleiner Flur. Das ist das Erdgeschoss, in dem die Familie Hutter/Fleck 1948 einzog. „Ostflüchtlinge“, insgesamt zwölf Familien aus der Tschechoslowakei, die der Pfarrer Heinrich Magnani (1899-1979) in einem deutschlandweit damals beispiellosen genossenschaftlichen Siedlungsprojekt unterbrachte. Mit einem prominenten Partner: dem Architekten Egon Eiermann.

Ohne Umschweife nimmt Hans-Eberhard Müller seine Gäste mit durch das kleine Haus, dessen schlicht-schöne Funktionalität an Bauhaus-Moderne und Großstadtästhetik erinnert. Die Holztreppe in die niedrigen Schlafzimmer hinauf, in denen noch Henkelmänner, Musikkassetten und Klöppelkissen, billiger Stragula-Boden und verschossene Tapeten vom kargen Alltag der einstigen Bewohner erzählen. „Ein Provisorium war dieses Haus aber keineswegs“, sagt Müller. Eine Rückkehr in die Ostgebiete –damals unmöglich.

Sie waren arm, aber der Zusammenhalt war groß

Hans-Eberhard Müller

12 bis 14 Millionen Deutsche suchten ein dauerhaftes Zuhause. Sie waren nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus ihren alten Siedlungsgebieten östlich der neuen polnischen Westgrenze von Oder und Neiße, aus der Tschechoslowakei, aus Jugoslawien oder Ungarn vertrieben worden oder vor den anrückenden russischen Truppen geflohen. Die meisten Städte waren zerstört. So wichen viele in ländliche Gebiete aus. Weil es in Neckarzimmern und Seckach nach dem Krieg noch die Barackenlager der NS-Organisation Todt gab, die nun als Erstaufnahmelager genutzt wurden, kamen überproportional viele Vertriebene im Neckar-Odenwald-Kreis an – allein der damalige Landkreis Buchen, in dem 50.000 Menschen lebten, nahm 19.000 Vertriebene auf. Hettingen hatte 1.300 Einwohner – nun kamen 600 weitere hinzu.

Das eigene Stück Land war nicht nur den „Ostflüchtlingen“, sondern auch Heinrich Magnani wichtig.

Wie ging es den Neuankömmlingen? „Sie waren meist arm, aber ihr Zusammenhalt war sehr groß“, fasst es Müller zusammen. Konzipiert hatte Egon Eiermann seine Siedlungshäuser eigentlich für jeweils eine Familie – genutzt wurden sie aber oft von mehreren. Nicht immer ganz freiwillig, wie die Spuren von zusätzlichen Schlössern an den Türen des oberen Stockwerks zeigen.

Dass die Familie, die in die Adolf-Kolping-Straße 29 zog, nicht gerade wohlhabend war, erwies sich für das Haus allerdings auch als großes Glück: Die meisten Siedlungsbauten sind heute stark verändert, umgebaut, erweitert worden. Dieses aber nicht: Das schlichte Regal für den Wohnbereich oder der begehbare Kleiderschrank neben dem Schlafzimmer, die Eiermann entwarf, ein Tisch, die Spüle, die Badewanne, sogar die Holzfenster mit ihren eleganten hellen Rahmungen – das alles war noch erhalten, als der Verein rund um den Politiker Manfred Pfaus das Haus 2011 kaufte. Auch mit Hilfe der Wüstenrot Stiftung.

Auch einen begehbaren Kleiderschrank entwarf Eiermann.

Heute erklärt eine kleine Ausstellung, die das Haus der Geschichte Baden-Württemberg konzipierte, mit Erinnerungsstücken, Tonaufnahmen und Fotos den Alltag der Bewohner und wie die Siedlung entstand. „Grosse Fähigkeiten in Bausachen“ hatte schon 1932 der Pfarrer von Waldshut seinem Vikar Magnani bescheinigt. In Hettingen bewies er Jahre später dann, dass er zu noch viel mehr fähig war: Der umtriebige Pfarrer sorgte sich um Bauland, schrieb Anträge, beschaffte Geldgeber und Material. Er vertrieb sogar Ansichtskarten der Siedlung, hielt Vorträge, organisierte regelrechte Prozessionen von Sachverständigen, Behördenvertretern, Siedlern, Bauunternehmern und Journalisten in die neue Siedlung. Und er machte ordentlich Werbung: Der „Spiegel“ berichtete ausführlich und der Papst sandte ein Dankeschreiben. „Dass alle künftigen Bewohner außerdem mithalfen, war ihm wichtig“, sagt Müller. 1.500 Arbeitsstunden hatten sie in der Siedlung abzuleisten – ohne freilich genau zu wissen, welches Haus ihnen per Losverfahren zugeteilt würde.

„Das flache Dach ist vielen ungewohnt aber materialsparend und wohl das Dach der Zukunft trotzdem es vielen nicht gefallen will“, notierte Heinrich Magnani in einem Fotoalbum, das er zur Dokumentation des Baus anlegte. Eiermann plante seine Häuser jeweils mit Garten und Stall. Dass er sie locker auf einer Anhöhe verteilte, war keinesfalls zufällig – jedes sollte für sich stehen. Als Zeichen von Individualität in einer neuen, demokratischen Gesellschaft. „Dass die Flüchtlinge ein eigenes Stück Land bekamen, war ihm außerdem wichtig“, sagt Müller, der die Hettinger gut kennt: 25 Jahre lang hat er die hiesige Grund- und Hauptschule geleitet. Zahlreiche Nachfahren der einstigen Flüchtlinge saßen in seinem Unterricht. „Die Nachnamen vieler Flüchtlingsfamilien sind mir heute noch im Ohr“, sagt der heute pensionierte Schuldirektor, der mit rund 50 Vereinsmitgliedern auch für die regelmäßigen Öffnungszeiten des Hauses zuständig ist. Und ein weiteres Projekt plant: Er will eine Art Eiermann-Route in Buchen auf den Weg bringen. Zu Orten, die mit dem berühmten Architekten, der die Gedächtniskirche in Berlin baute oder mit dem Mannheimer Helmut Striffler für seine Trinitatiskirche zusammenarbeitete, bis heute in Verbindung stehen. Etwa der Erweiterungsbau des Buchener Hotels Prinz Carl, in dem Eiermann vor seinem Umzug nach Karlsruhe wohnte, oder eben sein Grab.

Auch Heinrich Magnani hat seine letzte Ruhestätte nicht weit von den Hettinger Siedlungshäusern entfernt gefunden. Auf dem Gelände der „Klinge“, einem der größten Kinderdörfer deutschlandweit, das er aufbaute. Ein Herzensprojekt auch das. Ein Zeichen seines Einsatzes für andere, das bis heute besteht. Und selbst seine eigenen vier Wände haben eine besondere Bestimmung gefunden: Seit 2015 ist Heinrich Magnanis Pfarrhaus wieder bewohnt – von Flüchtlingen aus Syrien.


www.dokumentation-eiermann-magnani.de

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