Für Rollstuhlfahrer:innen endet der Wanderausflug oft dort, wo er für andere beginnt: Wenn die Route die asphaltierten Wege verlässt und auf holprigen Pfaden in den Wald abbiegt. Im Naturpark Neckartal-Odenwald muss dann zum Glück nicht Schluss sein. Denn der geländegängige E-Rolli, den der Naturpark verleiht, eröffnet neue Wege in die Natur.

Der Lack glänzt in makellosem Grün. Er lässt den E-Rollstuhl aussehen wie einen kleinen Traktor. Einen sehr sauberen kleinen Traktor. Keine Kratzer, kein Schlamm und das breite Profil der vier Räder ist so blitzblank, als hätte sie jemand mit der Zahnbürste geschrubbt. In ein paar Stunden wird das anders aussehen. Denn der Rolli mit dem vielversprechenden Namen „Extreme X8“ absolviert heute seine Jungfernfahrt. Erst vor ein paar Tagen ist er beim Naturpark Neckartal-Odenwald angekommen. Das Besondere: Er ist geländegängig, soll mühelos über Stock und Stein, über Wiesen, Schotter und nasses Laub rollen. Bislang hat Raffael Lutz, beim Naturpark zuständig für Barrierefreiheit, das Gefährt nur in der Geschäftsstelle in Eberbach getestet. Ein paar Absätze hoch und runter. „Das war kein Problem“, sagt der schmale Mann mit dem Schnurrbart. Doch wird sich das Gefährt auch im Gelände bewähren? Samir Sheik will es herausfinden. Er darf den Rollstuhl heute testen.

Gutes Sitzgefühl: Samir Sheik kann es gar nicht abwarten, bis es losgeht.

An einem Feldweg in Dilsbergerhof nähert sich der junge Mann mit wackligen Schritten dem E-Rolli. Der Weiler, der zu Neckargemünd gehört, liegt idyllisch eingebettet zwischen sanften Hügeln. Für den Rollstuhl sollte das keine Herausforderung sein: „Im Werbevideo überquert er die Alpen“, erzählt Lutz. Laut Hersteller schafft er es nicht nur durch den Wald, sondern sogar durch Schnee und über den Strand. Möglich machen das die breiten Niederdruckreifen. Sie federn Schläge ab und verhindern weitestgehend, dass der Rolli rutscht. Jeder wird von einem eigenen Motor angetrieben und kann sich unabhängig von den anderen bewegen. „Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich festfährt, ist sehr gering“, sagt Lutz. Er arbeitet seit 2020 beim Naturpark, hat vorher in Heidelberg Geographie studiert. Rund 30.000 Euro hat der Rollstuhl gekostet, finanziert hat das der Naturpark über Fördermittel aus der Waldstrategie des Landes Baden-Württemberg. Die Gelder für zwei weitere E-Rollis sind bereits bewilligt. Die kleine Flotte will der Naturpark künftig verleihen. Ein Pilotprojekt, von dem Lutz hofft, dass es Nachahmer findet.

Raffael Lutz erklärt Samir Sheik, wie er den E-Rolli bedient.

Doch heute ist er erst einmal gespannt, wie das Gefährt sich im Gelände schlagen wird – und darauf, ob Samir sich in ihm wohlfühlt. An der Hupe hat der Jugendliche mit den kurz rasierten Haaren jedenfalls schon Gefallen gefunden. Immer wieder drückt er auf den kleinen Knopf mit der Trompete, als wolle er sagen: „Wann geht es endlich los?!“  Mit 11 Jahren hatte Samir einen Fahrradunfall und erlitt ein Schädelhirntrauma. Seither ist er auf der linken Seite gelähmt. Dann kam er aus der Ukraine nach Deutschland und hat seinen Abschluss an der SRH Stephen-Hawking-Schule gemacht, die gleich hinter dem Berg in Neckargemünd liegt. Seine ehemalige Klassenlehrerin ist heute ebenfalls dabei: Gemeinsam mit ihren Schüler:innen hat Claudia Hanko den Camino Incluso initiiert. Ihr fallen direkt die beiden Haken an der Rücklehne des Rollis auf, an die Samir seinen Rucksack hängen kann. Die hätten viele E-Rollis nicht, erzählt sie: „Für die Begleitperson ist das ziemlich anstrengend, weil sie dann alles mitschleppen muss.“

Lutz schnallt Samir an. Der junge Mann grinst schelmisch, hupt zweimal und düst davon. Schon nach ein paar Metern hat er die anderen abgehängt und freut sich diebisch. Bis zu zehn Kilometer pro Stunde schafft der Rollstuhl und hat eine Reichweite von 35 Kilometern. Der Joystick, auf dem Samirs rechte Hand ruht, sieht aus wie ein Golfball. „Es gibt auch andere Aufsätze, zum Beispiel eine Art Stift“, erklärt Lutz, während Samir ein Schlagloch nach dem anderen durchquert. Selbst mit einem Aktivrolli wäre dieser Feldweg eine Herausforderung. Der E-Rolli bewältigt ihn mühelos. Dank der federnden Reifen merkt Samir kaum etwas von der holprigen Strecke. An der nächsten Kreuzung endet der asphaltierte Weg: Rechts geht es auf eine Wiese, links auf einen Schotterweg, geradeaus steil bergauf. Die meisten Rollifahrer:innen müssten jetzt wohl umdrehen. Samir dagegen stehen alle Wege offen. Hanko lotst ihn nach links, wo nach einigen hundert Metern ein steiniger Waldweg den Hang hinaufführt. Zwölf Prozent Steigung sollten mit dem Rollstuhl gut machbar sein, schätzt Lutz, je nach Untergrund auch mehr. Er zeigt Samir, wie er den Sitz nach vorne und hinten kippen kann, damit er trotz Steigung einigermaßen aufrecht bleibt.

Quer durch den Wald? Kein Problem für Samir im E-Rolli.

Der Hang ist schon zu Fuß nicht leicht: Große Steine liegen teils lose auf dem Weg. Der Regen hat Mulden und Rinnen in den Boden gespült. Für den E-Rolli ist all das kein Problem. Schnell verliert Samir die Scheu und gibt mehr Gas. Lutz staunt: „Es ist total beeindruckend, dass viele Hindernisse mit dem E-Rolli keine Rolle mehr spielen.“ Offenbar ist das Gefährt noch lange nicht am Limit. Also schickt Hanko ihren ehemaligen Schüler wieder den Berg hinunter und quer über die Wiese – mit Pfützen, Matsch und ordentlich Querneigung. „Meine größte Sorge ist, dass der Rollstuhl kippt“, erklärt sie. Keine angenehme Vorstellung, immerhin wiegt er 160 Kilogramm. Immer wieder scheint er auf dem Feldweg gefährlich in Schieflage zu geraten und Hanko zieht ängstlich die Luft ein. Doch egal, wie schief der Rolli steht, ins Wanken oder Schlingern gerät er nie. Selbst als Samir querfeldein über die Wiese in den Wald rauscht. Auch kleine Hindernisse wie Äste und Absätze überwindet er mühelos.

Für Lutz ist die Testfahrt ein voller Erfolg. Gleich am nächsten Tag bringt er den Rolli nach Heidelberg. Die Stadt will ihn im Rahmen des Umweltbildungsprogramms „Natürlich Heidelberg“ verleihen, damit auch Menschen, die nicht gut zu Fuß sind, an Führungen und Wanderungen teilnehmen können. Geht es nach Lutz, kommen bald weitere Kommunen, Vereine und andere Gruppen dazu, die einen der bald drei geländegängigen Rollstühle aus- und weiterverleihen. Wie genau das Leihsystem aussehen wird und ob man auch für private Wanderungen einen Rolli buchen können wird, will er in den nächsten beiden Jahren ausprobieren. Und auch unabhängig von den E-Rollis soll der Naturpark barriereärmer werden. Das Projekt „inklusive Wanderbotschafter:innen“ steht gerade in den Startlöchern: Menschen mit und ohne Behinderung testen Wanderwege, die die Kommunen dann – wenn sie geeignet sind – als barrierefreie Wanderwege für mobilitätseingeschränkte Menschen ausweisen können. „Damit viele Menschen die Wege nutzen, müssen wir möglichst transparent sein“, sagt Lutz. Wie viel Steigung hat der Weg? Führt er über Wiesen, Schotter, Asphalt? Gibt es Stufen? Wie kommt man hin? „Wenn die Leute das wissen, können sie selbst entscheiden, ob der Weg für sie machbar ist oder nicht.

Wandern (fast) ohne Barrieren: Der E-Rolli macht es möglich.

Für Samir scheint an diesem Tag fast alles machbar zu sein. Immer wieder reckt er den Daumen in die Höhe, grinst und ruft: „Gut, sehr gut!“ Claudia Hanko sagt, dass er im Wald richtig aufblüht – und freut sich, dass er diese Erfahrung nun öfter machen kann. Dass Lutz den E-Rollis viel zutraut, scheint berechtigt. „Es gibt fast keine Grenzen“, sagt er. „Außer die offensichtlichen – zu schmale Wege, zu große Absätze, steile Treppen.“ Für Samir und viele andere lösen sich so einige Barrieren auf. Und es eröffnen sich neue Wege. Über Stock und Stein in die Natur.


www.naturpark-neckartal-odenwald.de

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