Lebensader und Naturgewalt: Seit jeher prägt der Rhein das Leben der Menschen in Neupotz. Das Haus „Leben am Strom“ im Ortskern der Pfälzer Gemeinde zeigt, wie die Bewohner:innen im Laufe der Jahrhunderte am und mit dem Wasser leben – und wie sie sich vor ihm schützen.

Das Wasser kam nach Silvester. Es regnete unentwegt. Im Januar 1955 kam dann auch noch plötzliches Tauwetter hinzu: In nur zweieinhalb Tagen stieg der Rhein um mehr als drei Meter an. In Karlsruhe stand bereits der Hafen unter Wasser, in Speyer fuhren Boote durch die Straßen und in Neupotz? Da packten die Menschen ihre Habseligkeiten. Erst zögerlich, dann immer hektischer. „Meine Brüder hatten schon die Kühe vor den Wagen gespannt“, erinnert sich Emil Heid heute. „Wir waren bereit, das Dorf jederzeit zu verlassen.“ Schließlich drohten die Deiche zu brechen. Am 17. Januar 1955 erreichte der Rhein bei Maxau einen Pegel von 8,38 Metern, er stand so hoch wie seit 138 Jahren nicht – und kam plötzlich zum Stillstand. Der Deich hielt, mit Sandsäcken gestützt.

Der Altrhein bei Neupotz – so friedlich sieht die Landschaft allerdings nicht immer aus.

15 Jahre alt war Emil Heid damals – doch das Ereignis hat sich in sein Gedächtnis gebrannt. Wie bei allen Bewohner:innen von Neupotz. „Die Angst vor dem Wasser, sie ist doch immer präsent“, erzählt er heute. Schließlich kennt hier jeder die Geschichte des Dorfes, das früher nur Potz hieß. Ein Fischerdorf, die Bevölkerung lebte vom Rhein. Bis der Fluss 1535 über das Ufer trat, ganze Landstriche überflutete und das Dorf mit sich riss. Die restlichen Familien ließen sich so weit weg vom Rhein nieder, wie es die Gemarkung zuließ – und gründeten Neupotz.

Leben am Strom – davon kann auch Emil Heid einige Geschichten erzählen.

In dessen Ortskern steht Emil Heid jetzt, vor einem der alten Fachwerkhäuser. Das Holz rot gestrichen, die Fensterläden hellblau – ein renoviertes Schmuckstück. Seit 2013 beherbergt es das Heimatmuseum „Leben am Strom“, das einen klaren Schwerpunkt hat: das Wasser. Es erzählt die Geschichte von Potz und Neupotz und zeigt, wie die Bewohner:innen am und mit dem Rhein leben – und wie sie sich vor seiner Wucht schützen. Ein ungewöhnliches Heimatmuseum, das zum Mitmachen einlädt und interaktiv vermittelt, wie Hochwasserschutz funktioniert, damals und heute.

Emil Heid betritt den größten Raum des Erdgeschosses. Auf dem Boden ist ein großes Luftbild der Gemeinde Neupotz zu sehen – und der Rheinpolder, der 2013 eingeweiht wurde. Während seiner Amtszeit. Heid war von 2004 bis 2014 Ortsbürgermeister. Ein Neupotzer durch und durch. Er ist hier geboren, hat im Altrhein schwimmen gelernt und im nahen Bach Fische gefangen, „mit bloßen Händen.“ Nur gearbeitet hat er 40 Jahre bei einem Reifenhersteller in Karlsruhe. Weggezogen ist er nie, er versteht die Frage gar nicht. „Warum soll man denn hier weggehen?“

Die Angst vor dem Wasser, sie ist doch immer präsent

Emil Heid

Der Bau des Rheinpolders hat Heids Amtszeit geprägt. Kurz nachdem die Pläne bekannt wurden, bildete sich die Bürgerinitiative „Kein Polder Neupotz“, die Bewohner:innen waren in Sorge. Um ihre Äcker in Rheinnähe, um ihre Sicherheit. „Der Deich sollte Richtung Westen verlegt werden, näher an den Ort heran“, erklärt Heid. „Das hat den Leuten Angst gemacht.“ Heid versuchte zu vermitteln. „Mir war schon klar, dass sich beim Hochwasserschutz etwas ändern muss – und dass die Rheindörfer zusammenhalten müssen und jedes seinen Beitrag zu leisten hat.“ Aber er verstand die Sorgen der Bürger:innen. Auch die Struktur- und Genehmigungsdirektion Süd nahm die Bedenken ernst und ging bei Bürgerforen auf die Neupotzer:innen zu. Sie änderte Pläne, der Kiesabbau bekam feste Regeln, das Dorf wurde vom Lastverkehr befreit – und es bekam das Haus „Leben am Strom“.  Als „akzeptanzfördernde Maßnahme“, bei der die Gemeinde sich mit einbringen durfte.

Schritt für Schritt erklärt die Ausstellung, wie der Polder funktioniert.

Emil Heid geht zu den Lautsprechern an der Fensterseite des Raums. Hier kommen alle noch einmal zu Wort – Heid selbst genauso wie die Gegner und Befürworter des Polders. Und sie erzählen, wie sie schließlich doch zueinander gefunden haben. Das Haus ist also nicht nur ein Heimatmuseum, sondern auch ein schönes Beispiel dafür, wie Konflikte auf kommunaler Ebene gelöst werden können.

Viele Stimmen, viele Meinungen – doch am Ende waren alle einverstanden mit dem Bau des Polders.

Anhand des Luftbilds erklärt Heid, wie der Polder funktioniert. Kleine Tafeln mit Handgriffen helfen ihm dabei. „Hier verläuft der neue Deich“,  sagt er und stellt die Tafel auf die entsprechende Nummer – an der Wand leuchtet ein Bildschirm mit einem Bild des Deichs auf. Östlich davon darf der Rhein sich nun über die Felder und Wiesen ausbreiten, wenn er Hochwasser führt. Steigt er weiter, kommt der gesteuerte Polder zum Einsatz – ein Rückhaltebecken, das 13,85 Millionen Kubikmeter Wasser aufnehmen kann. „Bisher haben wir ihn noch nicht gebraucht“, sagt Heid.

Der Rheinpolder heute – jederzeit bereit, Millionen Kubikmeter Wasser aufzunehmen. Bild: Franz Gschwind

Auch das Naturparadies Rheinauen stellt das Haus „Leben am Strom“ vor – genauso wie den Rhein als Lebensraum oder die Bemühungen, den Lachs wieder im Fluss anzusiedeln. Der zweite Raum im Erdgeschoss zeigt die Entwicklung der Schifffahrt auf dem Rhein. Von den modernen Containerschiffen bis zurück zu den Römern. Zu sehen ist auch ein Modell des Römerschiffs „Lusoria Rhenana“ , mit dem das Haus Leben am Strom gemeinsam eine SchUR-Station des Landes Rheinland-Pfalz (Schulnahe Umwelterziehungseinrichtung) bildet.

Modell des Römerschiffs „Lusoria Rhenana“ – das im Sommer nicht weit vom Museum vor Anker liegt.

Eine knarzende Holztreppe führt in den ersten Stock, wo Besucher:innen durch das Fischerdorf Potz laufen und selbst ein Netz knüpfen können. Noch im 18. Jahrhundert lebte das Dorf vom Fischfang, doch mit der Rheinbegradigung Anfang des 19. Jahrhunderts verloren sie ihre Berufe. Bereits 1822 gab es keine Fischer mehr im Ort. Das Dorf wandelte sich zum Bauerndorf, auch die Korbmacherei spielte eine große Rolle. An einer Station erfahren die Besucher:innen auch, wie viele Einwohner:innen im 17. und 18. Jahrhundert ihre Heimat verließen, um in Amerika (hier geht es zu unserem Text über die Pfälzer in Amerika) ihr Glück zu versuchen.

Emil Heid am Altrhein bei Neupotz: „Warum soll man denn hier weggehen?“

Das Museum bietet Führungen und Workshops an, viele speziell für Kinder. Nicht wenige davon leitet Emil Heid. Ihm macht es Spaß, Menschen die Geschichte seiner Heimat zu näherzubringen. Im Museum und gerne auch draußen, „auf Exkursion“. Zum Polder oder zu den Rheinauen. Heid schwingt sich auf sein Fahrrad und radelt zum Setzfeldsee, an dem im Sommer auch ein Nachbau der „Lusoria Rhenana“ vor Anker liegt. Gegenüber liegt der Obere Altrhein mit einem kleinen Badestrand. Er steht am schilfumwachsenen Steg, der ins Wasser führt und wiederholt seine Frage von zuvor: „Warum soll man denn hier weggehen?“


Das Haus Leben am Strom hat immer mittwochs und freitags von 14 bis 16 Uhr geöffnet, bietet für Gruppen aber auch Führungen außerhalb dieser Zeiten an: haus-leben-am-strom@neupotz.de

www.vg-jockgrim.de/Freizeit-Tourismus/Museen-Ausstellungen/Haus-Leben-am-Strom/

Newsletter

Ausflugstipps und interessante Geschichten über die Rhein-Neckar-Region gibt es regelmäßig in unserem Newsletter.

Und so geht’s: Geben Sie Ihre E-Mail Adresse in das Feld ein und klicken Sie auf abonnieren. Sie erhalten daraufhin eine automatisch generierte Nachricht an die von Ihnen genannte E-Mail Adresse, die Sie nur noch bestätigen müssen. Fertig!

Abbrechen

Suche