Der Lingenfelder Altrhein ist ein Naturparadies. Auf einem Nachen, einem Boot mit Elektroantrieb, gleiten Besucher:innen fast lautlos durch die einzigartige Flora und Fauna der Pfälzer Rheinauen. Früh am Morgen führt die Fahrt vorbei an schlafenden Schwänen und Bisamratten bei der Morgenwäsche.

Kurz vor sechs Uhr. Noch liegt die Bootsanlegestelle auf der Insel Grün nördlich von Germersheim fast vollkommen im Dunkeln. Nur im Osten schimmert der Himmel bereits in sanftem Rosa. Eine Fledermaus kreist auf Futtersuche über dem Althrein, Grillen zirpen, vereinzelt zwitschern Vögel. Ansonsten Stille. Zwei Schwäne wiegen wie kleine, weiße Boote träge auf dem Wasser. Die langen Hälse noch ins Gefieder gepresst. Sie schrecken kurz auf, als Uwe Hartmann das Gitter der Anlegestelle öffnet und das Rattern die Stille durchschneidet. Als es oben ist, haben sich die Schwäne längst wieder schlafen gelegt.

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Auf lautlose Fahrt über den Altrhein. Musik: „Mountain Spirit“ by Vadim Krakhmal

Im Bootshaus liegen „Dieter“ und „Klaus“. So heißen die zwei Nachenboote, die hier vor Anker liegen. Einfache Boote ohne Kiel, angetrieben nur von einem Elektromotor. Normale Motorboote sind hier auf dem Altrhein nicht erlaubt. Die Natur soll so wenig wie möglich gestört werden. Deshalb setzt die Stadt Germersheim bereits seit 2006 auf die leisen Nachen, um den Menschen das einzigartige Naturparadies der Lingenfelder Rheinauen näher zu bringen.

Von der Insel Grün starten die Nachenfahrer:innen ihre Expedition auf den Rheinauen.

Hartmann checkt die Ausrüstung. Sind genug Rettungswesten, genug Regenschirme an Bord? 13 Nachenführer:innen gibt es. Seit 2008 fährt Hartmann mit Besucher:innen durch die Rheinauen. Es gibt Vogelstimmen-, Imker- und Kräuterfahrten, Feierabendfahrten zum Sonnenuntergang. Und eben Fahrten, die frühmorgens in den Sonnenaufgang führen. „Das ist immer eine ganz besondere Atmosphäre, wenn man zuschauen kann, wie die Natur erwacht“, sagt Hartmann.

Mittlerweile leuchten die Wolken am Himmel in Rosa- und Violett-Tönen. Das Konzert der Vogelstimmen wird vielstimmiger, hin und wieder ist ein lautes Krächzen zu hören. „Ah, die Reiher sind wach“, sagt Hartmann. Zeit also, aufzubrechen. Zwölf Frühaufsteher:innen sitzen mit im Boot. Als „Klaus“ fast lautlos aus der Anlegestelle gleitet, unterhalten sich alle nur noch im Flüsterton. Der Altrhein schimmert im blassen Morgenlicht, am Ufer spiegeln sich die Bäume im Wasser. An einem kleinen Strand stolziert ein Graureiher, duckt sich kurz und hebt schließlich mit großen Flügelschlägen ab.

Das ist immer eine ganz besondere Atmosphäre, wenn man zuschauen kann, wie die Natur erwacht.

Uwe Hartmann

Szenen wie aus einer Naturdokumentation. Über eine ursprüngliche, wilde Landschaft, die der Kopf eher in weiter Ferne vermutet, in Südamerika vielleicht oder Asien. Weil er diese Art von Landschaft, diese unberührte Natur hier in Deutschland kaum noch erwartet, erst recht nicht vor der eigenen Haustür. Dabei sind die Graureiher natürlich genauso typisch für die Region, wie die Weiden, Pappeln und Erlen am Ufer. Doch ihr Anblick ist mittlerweile alles andere als alltäglich.

Ein Purpur-Reiher lauert auf ein leckeres Häppchen.

Eine Nachenfahrt ist deshalb auch eine kleine Reise in die Vergangenheit, in die einzigartige Naturlandschaft des vorindustriellen Rheins. Die unberührte Welt der alten Flussarme vermittelt einen Eindruck davon, wie es früher einmal auf und am Rhein aussah. Vor dem 19. Jahrhundert. Bevor Johann Gottfried Tulla seine kühnen Pläne zur Rheinbegradigung ausführen konnte (die Mannheim zu einer ungewöhnlichen Fähre verhalf – hier geht’s zu unserer Wo-Sonst-Geschichte). Uwe Hartmann liest einen Text aus der Zeit des Ingenieurs vor. Von der Gefahr des ungebändigten Rheins ist darin die Rede, der wie ein „unbarmherziger Eroberer“ das Land an seinen Ufern verschlingt. Ein Löwe, den man so schnell wie möglich an die Kette legen sollte. Und er wurde an die Kette gelegt. Gezähmt, begradigt und verkürzt. Fit gemacht für die Schifffahrt und das Industriezeitalter. 18 Durchstiche plante Tulla zwischen Straßburg und Mainz, statt 135 Kilometer war der Rhein hier schließlich nur noch 86 Kilometer lang. Man gewann wertvolle Fahrtzeit – zu einem hohen Preis. Unzählige Inseln, Feuchtgebiete, Wälder und natürliche Überflutungsflächen verschwanden und mit ihnen die Lebensräume vieler Vögel, Insekten, Fische und Säugetiere. Nur noch fünf Prozent der Altrheinarme, erzählt Hartmann, seien noch so naturbelassen wie hier in Germersheim.

Nur wenige Rheinauen sind so naturbelassen wie der Lingenfelder Altrhein.

Vom Kief‘schen Weiher, wie der Altrhein dort heißt, wo einst ein Unternehmen namens Kiefer nach Kies gegraben hat, steuert Hartmann den Nachen in einen schmalen Arm des Altrheins, der weiter südöstlich in den Rhein fließt. Die Stille auf dem Wasser, das leise Dahingleiten durch ein Meer von Grün, hat etwas Meditatives. Ein schriller Schrei lässt den Bootsführer aufhören. „Ein Eisvogel!“ 13 Augenpaare suchen konzentriert das Ufer nach dem bunten Gefieder der Vögel ab. Statt dem Eisvogel entdecken sie jedoch etwas anderes. Ein Biber? Ein Nutria? „Eine Bisamratte bei der Morgenwäsche“, stellt Hartmann klar. In aller Ruhe putzt sich das Tier, gleitet dann langsam ins Wasser und schwimmt ans andere Ufer.

In den Sonnenaufgang gleiten – an sich schon ein Erlebnis. Dabei Eisvögel und Bisamratten beobachten: einzigartig.

Bei seiner ersten Nachenfahrt war Hartmann noch Mitfahrer. Er ist leidenschaftlicher Aquarianer, hat mehrere Süßwasser-Aquarien zu Hause und hatte sich von der Tour etwas Futterausbeute erhofft. „Ich dachte, wir kommen vielleicht an ein paar Tümpel mit schönen Mückenlarven vorbei“, erzählt er und lacht. Seine Hoffnung hat sich zwar nicht erfüllt, aber die lautlose Fahrt über den Rhein hat ihn nachhaltig beeindruckt. Als er wenig später eine Anzeige im Amtsblatt entdeckte, mit der die Stadt neue Nachenführer:innen suchte, meldete er sich sofort.

Seit 2008 steuert Hartmann Nachen durch die Rheinauen.

Hartmann kommt aus Potsdam, 1997 zog er „der Liebe wegen“ nach Germersheim und blieb. „Der Rhein, die Pfalz, der Pfälzerwald – ich wollte hier nicht mehr weg.“ Beruflich hat er rein gar nichts mit Flora und Fauna zu tun. „Ich bin Kundenberater in einer Sparkasse“, erzählt er. Doch so oft er kann, ist er am Wochenende oder nach Feierabend auf dem Altrhein unterwegs. „Ich bin gerne in der Natur, war schon immer biologisch interessiert – für mich ist das der perfekte Ausgleich.“

Anekdoten zum „Pfälzischen Woodstock“ und Anschauungsunterricht mit Zunderschwamm – Hartmann hat beides auf Lager.

Immer wieder baut er auch geschichtliche Anekdoten in seine Fahrt ein. Wie die von der Lokomotive, die 1852, ganz in der Nähe, beim Transport vom Schiff rutschte, im Rhein versank und trotz vieler Versuche nie gefunden wurde. Oder die vom „Pfälzischen Woodstock“, dem 2. British Rock Meeting, bei dem 1972 auch Pink Floyd, Wishbone Ash und Uriah Heep auftraten und gut 70.000 Besucher:innen auf die Insel Grün lockten.

Das Dahingleiten auf dem stillen Wasser des Altrheins hat etwas Meditatives.

„Klaus“ summt nun langsam auf die Mündung des Schäferweihers zu (klar, hier hat natürlich mal ein Unternehmen namens Schäfer gebaggert). Hier fällt das Ufer steil ab, gut drei Meter. „Diese Steilufer liebt der Eisvogel“, erklärt Hartmann. Er baut gerne Brutröhren in den senkrechten Lehmboden. Mehrere Paare brüten hier. Und tatsächlich, wenig später schießt ein leuchtend blaues Etwas mit schnellen Flügelschlägen über das Wasser. Der Vogel setzt sich kurz auf einen Ast, zeigt seine rostrote Unterseite und fliegt weiter, noch ehe die Smartphones gezückt sind.

Gegen 8 Uhr haben die Nachenfahrer:innen den Rhein nicht mehr für sich allein – idyllisch ist es jedoch nach wie vor.

Inzwischen blitzt immer wieder die Sonne durch die Wolkendecke. Eine junge Frau gleitet auf einem Stand-Up Paddleboard vorbei, ein Kajakfahrer pflügt durchs Wasser, am Ufer haben mehrere Angler Position bezogen. Auf der Rückfahrt zur Anlegestelle haben die Nachenfahrer:innen den Altrhein längst nicht mehr für sich allein. Für die Sumpfschildkröte, die sich vor einigen Jahren hier angesiedelt hat, ist es scheinbar dennoch zu früh. „Sie wartet wohl, bis die Sonne höher steht“, sagt Hartmann. Dafür steht zwischen den Ästen eines umgefallenen Baums ein Purpurreiher in Lauerstellung, der unter der Wasseroberfläche wohl einen leckeren Happen entdeckt hat. Und am anderen Ufer liefert sich die Bisamratte mit zwei Schwänen kleine Revierstreitigkeiten. Fehlt nur noch die Off-Stimme eines Moderators, der diese doku-würdige Szene mit ernster Stimme kommentiert.


www.germersheim-erleben.eu/Erlebenswertes/Nachenfahrten

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