Ja, es gibt sie noch: Orte, die Vergangenheit und Gegenwart zu einer harmonischen Einheit verschmelzen lassen. Verträumt, romantisch, aber auch lebendig und modern: die Mosbacher Altstadt ist mit ihrem einzigartig schönen Fachwerkensemble Freiluftmuseum und urbanes Labor zugleich – und Heimat für Menschen, die ihre Stadt lieben und ihre Geschichte mit Leidenschaft erzählen.
Der letzte Türmer von Mosbach war ein beneidenswerter Mann. Sein Ausblick vom Rathausturm hinaus in den Odenwald war großartig – und seine Work-Life-Balance nahe an der Perfektion: Georg Andreas Großkinsky hatte in 34 Meter Höhe nur dafür zu sorgen, dass die Turmglocken zuverlässig schlagen – und dabei noch Zeit, um als Schuster ein Zubrot zu verdienen. Bis ins Jahr 1909 genossen die Mosbacher den Service, kaputte Schuhe in einen Korb legen zu können, den er von der Turmspitze herabließ. Kurze Zeit später kam ein repariertes Einzelstück herab – und nach Bezahlung dann auch das zweite.
Nur eine von vielen kuriosen Geschichten, die man bei einer Führung hinauf auf den Rathausturm erfahren kann, falls einem die Aussicht nicht die Konzentration verschlägt. Der Tiefblick auf die roten Ziegeldächer der historischen Altstadt ist fast unwirklich schön und macht Appetit auf einen Rundgang durch die verwinkelten Gassen.
„Mittwochs und samstags führen wir jedes Jahr mehr Besucher durch die Altstadt“, freut sich Mariola Hoinka, die Leiterin der Tourist Information am Marktplatz. Ihr Arbeitsplatz ist Anlaufstelle für Städtetouristen, Fachwerkbegeisterte und Radwanderer und könnte besser nicht liegen – umzingelt von Sehenswürdigkeiten wie der Stiftskirche St. Juliana oder dem Palm’schen Haus – einem der schönsten Fachwerkhäuser Deutschlands. Eigentlich wollte die Bremerin ja nur zeitweise in Mosbach bleiben, um nach ihrem Tourismusstudium Berufserfahrung zu sammeln. Doch aus zwei Jahren sind schon fast 10 Jahre geworden, und aus einer vorsichtigen Annäherung an den eher beschaulichen Rhythmus einer Kreisstadt mit 23.000 Einwohnern ein Bekenntnis: „Ich habe Mosbach lieben gelernt – nicht nur, weil es hier schön ist, sondern weil die Begegnung mit den Menschen so viel Spaß macht.“
Eine dieser Begegnungen ist der Journalist und Archäologe Rudolf Landauer. Eigentlich spezialisiert auf seine Lieblingsthemen Römerzeit und Luftbildarchäologie, begann der Wahl-Mosbacher nach einer Anfrage von Mariola Hoinka nach Literatur zum Thema Mosbacher Fachwerk zu suchen – und fand: nichts! „Ich war sehr erstaunt, dass ein halbes Jahrtausend einzigartiger Fachwerkgeschichte nicht dokumentiert war – und plötzlich war uns klar: wir brauchen einen Führer zu diesem stadtkulturellen Erbe.“
Ein Jahr Arbeit und viele Überraschungen stecken nun im 2016 erschienenen „Fachwerkführer Mosbach“, der eine kleine Revolution ausgelöst hat: die Fachwerkwelt Mosbachs ist neu zum Leben erwacht. Zu jedem Fachwerkhaus können die aktuell 25 ehrenamtlichen Stadtführer nun eine ganz eigene Geschichte erzählen – und für Individualisten eröffnet sich die Möglichkeit, auch auf eigene Faust auf Altstadttour zu gehen und zu staunen. Fast unglaublich, aber trotz der Wirren des 30jährigen Krieges, des Pfälzischen Erbfolgekrieges und zweier Weltkriege hat sich hier, umringt von einem Siegel saftig grüner Odenwaldberge, ein einzigartiges architektonisches Ensemble erhalten. „Das Besondere ist“, erklärt Rudolf Landauer, „dass die Bauten vom 14. bis ins 19. Jahrhundert reichen und sich in einem hervorragenden Zustand befinden, bewohnt sind, oder als Geschäft dienen.“ Keine Frage: in Mosbach lebt das Thema Fachwerk und wird mit Leidenschaft weiter belebt. Im Rahmen eines Sanierungsprogramms der Stadt haben Hausbesitzer bereits über drei Millionen Euro Zuschüsse zur Sanierung erhalten – und aus privaten Mitteln über 15 Millionen Euro in die Restaurierung investiert, wie der in den USA lebende Mosbacher Uwe Palm, der einen Millionenbetrag in die Sanierung seines Elternhauses investierte – dem prächtigen „Palm’schen Haus“ aus dem Jahr 1610 – eine Rarität und ein Beispiel höchster mittelalterlicher Zimmereikunst.