Speyer, Worms und Mainz haben ein reiches jüdisches Erbe. Ihre Monumente sind mehr als 1.000 Jahre alt – und ihre Botschaften noch immer aktuell. Die Historikerin Susanne Urban hat es mit vielen Mitstreiter*innen geschafft, dass die UNESCO sie nun zu Stätten des Weltkulturerbes gemacht hat.
Das erste, woran man denkt, sind die Kinder dieser Toten. Wie ein mächtiger Baumstamm sieht Johanna Pfungs Grabstein aus, der wie abrupt abgeschnitten wirkt. Und dennoch so voller Triebe steckt, dass man gleich an ihre Familie denkt. An all die Nachfahren, die diese Frau, geboren 1802 und begraben 1889 in Worms, wohl hatte. Eine Eiche aus Stein, aber doch so voller Leben – könnte es ein schöneres Sinnbild für diesen Ort geben, als jenen Grabstein auf dem „Heiligen Sand“ in Worms? An die 2.500 Monumente ragen hier empor, in deren oftmals roten Sandstein sich jüdische Geschichte seit dem 11. Jahrhundert eingeschrieben hat. Gräber, so weit das Auge reicht. Manche sind eingesunken und verwittert. Vielleicht aber gerade deshalb von einer solch ungeheuren Präsenz. Denn der jüdische Friedhof in Worms ist der älteste erhaltene in Europa.
Dass er noch heute existiert, nicht nur die NS-Zeit, sondern auch Pogrome überstanden hat, grenzt an ein Wunder. Susanne Urban kommt gerne hierher. Nicht allein, weil dieser Friedhof auch ein wichtiger Teil ihrer Arbeit ist. „Der Wunsch nach Erinnerung ist ungeheuer stark“, sagt sie – und in gewisser Weise passt ein Satz wie dieser auch zu ihr selbst: Als Kind liest sie das Buch „Ein Stück Himmel“ von Janina David und ist so beeindruckt, dass sie mit der Londoner Schriftstellerin jahrelang Briefe schreibt. Sie studiert Geschichte und promoviert über jüdische Verlage. Sie arbeitet als Redakteurin der jüdischen Zeitschrift „Tribüne“ und geht fünf Jahre nach Israel, wo sie im Dokumentationszentrum Yad Vashem unter anderem Seminare für deutsche Lehrer organisiert. Sie ergattert einen der wenigen unbefristeten Jobs als Historikerin, wird Leiterin des „International Tracing Services“ in Bad Arolsen, einem Archiv zur Erforschung der NS-Zeit und des Überlebens. Und kündigt, weil die Aufgabe in Worms sie so sehr reizt.
Als Geschäftsführerin des Vereins „SchUM-Städte Speyer, Worms, Mainz“ hat Susanne Urban einige Jahre nun an einer Bewerbung für das UNESCO-Weltkulturerbe gearbeitet – mit Erfolg: Im Juli 2021 wurden die SchUM-Stätten vom Welterbekomitee mit dem begehrten Titel ausgezeichnet. Dazu gehören der Speyerer Judenhof, der Wormser Synagogenbezirk sowie die alten jüdischen Friedhöfe in Worms und in Mainz. SchUM, das steht für die Anfangsbuchstaben der hebräischen Ortsnamen Schin (Sch) für Schpira (Speyer), Waw (U) für Warmaisa (Worms) und Mem (M) für Magenza (Mainz). Alle drei Städte bildeten im Mittelalter so etwas wie ein geistiges Zentrum des Judentums in Europa entlang des Rheins: Bedeutende Gelehrte unterrichten hier. An allen drei Standorten galt dieselbe Rechtsprechung. „Und selbst architektonisch gab es eine Einheit“, erklärt Urban: Synagogen und Mikwaot, jüdische Ritualbäder, folgten derselben Formensprache. 1212 entstand in Worms ein Frauentrakt an der Synagoge – der erste in Europa.