Kinder wollen lernen. Als Lehrerin beobachtete Carolin Rückert jedoch oft, wie hochmotivierte Kinder in der Schule ihre Freude daran wieder verlieren. Sie wollte das ändern – und gründete in Ladenburg die erste Draußenschule der Region.

Mira schüttelt ihre Hand. Sie will das Moos loswerden, das hartnäckig daran klebt. Neben ihr bricht Moritz dünne Äste in kleine Stücke: Stacheln für seinen Igel aus braunem Pappkarton. Hinter ihnen steht Luke mit einem ausgebeulten T-Shirt. Eine Ladung Sand steckt darin. „Das ist vielleicht doch etwas viel.“ Katharina Edin, seine Lehrerin, lacht. Überall werkeln Kinder. Auf der Mauer, unter der großen Eiche, im Sitzen, im Stehen, mit Moos und Ästen, Federn und Sand.

Basteln mit der Natur in der Natur an der Draußenschule Alltag.

Ein Herbsttag in der Draußenschule Ladenburg. Kein Projekttag oder Ferienprogramm, sondern ein ganz normaler Donnerstagvormittag. Auf dem Stundenplan: Sachkunde und Kunstunterricht. Das Klassenzimmer: der Waldpark in Ladenburg. Manchmal ist es aber auch der Garten im Schulhof oder der Markt, eine Müllhalde oder ein Museum. Hauptsache draußen und nicht immer in den gleichen vier Wänden. Wobei draußen hier nicht zwangsläufig in der Natur heißt. Sondern: draußen in der Welt, mitten im Leben. Denn an der Draußenschule lernen die Kinder Mathe am Marktstand und Sachkunde auf dem Bauernhof. „Eben so lebensnah wie möglich“, erklärt Carolin Rückert „denn dann lernen die Kinder nicht nur die Inhalte, sondern auch gleich, wofür sie diese brauchen“.

Vom Mittagessen bis zur Ausstattung: „Wir müssen hier alles selbst organisieren“, sagt Carolin Rückert.

Rückert ist Gründerin und Leiterin der Draußenschule. 2021 hat sie hier die ersten 25 Grundschüler:innnen eingeschult, zwei Jahre später sind es bereits 35, maximal 40 will sie aufnehmen. Das Interesse ist groß an der Privatschule, die pädagogisch neue Wege geht – und dafür einige Hürden überwinden musste. Die, das gibt Carolin Rückert zu, viel höher waren, als sie ursprünglich dachte. „Ja, ich war vielleicht etwas naiv“, sagt sie. Aber vor allem sehr motiviert, etwas zu bewegen. Sie wollte einen Ort für Kinder gestalten, der Spaß am Lernen vermittelt, der zum Weltentdecken ermuntert – und nicht nur zum Stillsitzen.

Die Pädagogin hatte lange an einer Werkrealschule Biologie, Deutsch und Geschichte unterrichtet, wechselte dann in die Lehrerausbildung und später an eine Grundschule in Mannheim. Dort erlebte sie, wie Erstklässler:innen hochmotiviert in die Schule kamen – und nicht wenige nach einem halben Jahr ihre Lernfreude verloren. „Ich fand das erschreckend. Kinder wollen ja lernen, sie sind neugierig und wissbegierig. Und wir haben es geschafft, sie zu verlieren. Durch Regeln, starre Strukturen, viel zu viele Arbeitsblätter und viel zu wenig Bewegung.“

Kinder wollen ja lernen, sie sind neugierig und wissbegierig. Und wir haben es geschafft, sie zu verlieren. Durch Regeln, starre Strukturen, viel zu viele Arbeitsblätter und viel zu wenig Bewegung.

Carolin Rückert

Sie wollte etwas ändern, im kleinen Rahmen zunächst, und ließ sich zur Waldpädagogin ausbilden. Alle zwei Wochen ging sie mit einer Gruppe für vier Stunden raus ins Grüne. Das Interesse der Eltern war groß, die Begeisterung der Kinder auch. Rückert merkte, wie viel Freude ihnen das Lernen außerhalb des Klassenzimmers machte. Vor allem den Kindern, die sich mit Stillsitzen schwertun oder Lernschwierigkeiten haben. Sie begann, von ihrer eigenen Schule zu träumen. Das Vorbild: Die „Udeskole“ (Draußenschule), die im skandinavischen Raum schon weit verbreitet ist.

Ein paar Regentropfen? Stören an der Draußenschule niemanden….

„Machen ist wie wollen, nur krasser“ – der Spruch prangt auf einer Postkarte an einer Tür im Schulgebäude. Ein ehemaliges Vereinshaus am Rand des Ladenburger Waldparks, aus dem mit viel Holz und viel Licht und jeder Menge Arbeit ein einladendes Schulhaus wurde. Die Kinder sind hier in Socken oder Hausschuhen unterwegs. Gerade huschen sie die Treppe hoch, in den Raum unter dem Dach. Auf dem großen Teppich besprechen sie, wie die nächsten Schulstunden ablaufen werden, wer wann in welcher Gruppe ist und wo der Unterricht stattfindet. Es gibt keine feste Klassenstruktur in der Draußenschule, die Kinder lernen meist gemeinsam. Nur in Deutsch und Mathematik bleiben die Schulanfänger:innen erstmal für sich, bis sie die Grundlagen sicher beherrschen.

Mal drinnen, mal draußen, mal gemeinsam, mal in kleineren Gruppen – das Lernen in der Draußenschule ist enorm abwechslungsreich.

Wie anstrengend es wird, nicht nur zu wollen, sondern auch zu machen, merkte Rückert schnell. Auch der Bürgermeister von Ladenburg, Stefan Schmutz, warnte sie. „Er hat mir gesagt, dass er mich unterstützt, aber dass es auch ein verdammt dickes Brett ist, das ich da durchbohren will.“ Sie begann, nach Feierabend ein Konzept für ihre Draußenschule zu schreiben. Nach einem dreiviertel Jahr war es fertig – und das Kultusministerium in Baden-Württemberg lehnte es ab. Kein besonderes pädagogisches Interesse, kein Alleinstellungsmerkmal, so das Urteil. Rückert ließ nicht locker. Sie schrieb ein neues Konzept, während am Schulgebäude schon die Bagger anrückten und erste Eltern ihre Kinder anmeldeten. Für ihr neues Konzept verknüpfte Rückert die Inhalte der Draußenschule mit Medienunterricht und Informatik. Für Rückert kein Widerspruch, sondern eine Notwendigkeit: „Kinder müssen heute mit Medien umgehen können.“ Gemeinschaftliches und lebensnahes Lernen, Naturverbundenheit und Medienkompetenz – das sind die Säulen, auf die sich die Draußenschule stützt und die auch das Kultusministerium überzeugten.

In der alten Schule ging es immer Zack-Zack. Hier ist nicht so hetzig und anstrengend.

Schülerin Lina

Auf der Bank vor dem Schulgebäude liegt mittlerweile eine ganze Igelfamilie zum Trocknen in der Herbstsonne. Gerade ist Pause, eine Gruppe bolzt einen Ball durch das Herbstlaub, eine andere spielt Pferdehof. Neben Igeln sind Pilze derzeit das große Thema, das sich durch alle Fächer zieht. Die Kinder lernen verschiedene Sorten kennen – und sammeln sie anschließend unter fachkundiger Anleitung im Wald. Und sie haben einen Stop-Motion-Film gedreht, ein Tutorial, wie jeder Zuhause mit einer Pilzbox selbst Champignons züchten kann. Die Schüler:innen bekommen nicht nur Wissen vermittelt, sondern geben es auch weiter. Deeper Learning nennt sich dieser Ansatz, den Rückert verstärkt in den Schulalltag einbringen will.

Lagebesprechung in der Draußenschule – wer ist wann in welcher Gruppe?

Am 11. September 2021 verließen die letzten Bauarbeiter das Schulgebäude, zwei Tage später fand die erste Einschulungsfeier in der Draußenschule statt. Einzugsgebiet der Schule ist Ladenburg und die umliegenden Gemeinden. „Wer sein Kind hier anmeldet, muss es wirklich wollen“, sagt Rückert. Die Schule ist staatlich genehmigt, doch eine finanzielle Förderung bekommt sie erst ab dem vierten Betriebsjahr. „Wir erheben ein Schulgeld, gestaffelt nach dem Einkommen der Eltern, und müssen alles selbst organisieren.“ Deshalb müssten die Eltern mit anpacken. Sie verteilen das Mittagessen, leiten AGs, putzen und übernehmen Fahrdienste. Eine staatliche Anerkennung strebt Rückert nicht an, obwohl es finanziell und personell einige Vorteile mit sich brächte. „Aber wir wollen uns inhaltlich unsere Freiheit bewahren.“

Kunstunterricht in der Draußenschule: Die Welt entdecken, nicht nur stillsitzen.

Mittlerweile gibt es auch Quereinsteiger:innen unter den Kindern, wie Lina. Sie hat eine Lese-Rechtschreibstörung. „In der alten Schule ging es immer Zack-Zack – ich kam da nicht mit und habe ganz viele Fehler gemacht.“ Hier bekommt sie die Zeit, die sie braucht. „Und mich lacht keiner aus!“ fügt sie schnell hinzu. Seit der Druck weg ist, geht Lina wieder gerne in die Schule. Noten gibt es an der Draußenschule keine, stattdessen Kompetenzberichte. Die Lerninhalte sind jedoch am Bildungsplan von Baden-Württemberg orientiert. „Zudem stehen wir in Kontakt mit anderen öffentlichen und weiterführenden Schulen“, sagt Rückert. Ein Übergang sei deshalb jederzeit möglich. Von 9 bis 15 Uhr geht ein Schultag. Ein langer Tag. „Aber danach gibt es auch keine Hausaufgaben mehr“, erklärt Rückert. Obwohl sie länger in der Schule ist, kommt Lina der Tag hier viel kürzer vor. „Es ist nicht so hetzig und anstrengend“, erzählt sie. Weil es viel weniger Schüler sind und alles viel ruhiger ist, weil sie in der Natur spielen können und nicht nur auf einem zubetonierten Schulhof.

Lager bauen, Feuer machen – in der Draußenschule lernen die Kinder spielend.

Nachmittags stehen praktische Kurse auf dem Stundenplan, wie der Medienunterricht, Werken oder die Generationenwerkstätten, die teils von Eltern, teils von Vereinen oder engagierten Bürger:innen geleitet werden: Schach, Improvisationstheater, Experimente oder „Into the Wild“. Diese Gruppe versammelt sich gerade am Hoftor, als es anfängt zu tröpfeln. Die Kinder scheinen es gar nicht bemerken. „Wir gehen erst rein, wenn‘s richtig regnet“, erklärt Nora. Die Kinder stapfen los zu ihrem Lager im Wald. Ein Feuer wollen sie heute machen. Schwierig, wenn alles im Wald feucht ist. Doch eine halbe Stunde später ist zwischen den Bäumen ein kleines Feuer zu sehen. Und drum herum stehen sieben Kinder mit einem stolzen Grinsen im Gesicht.


www.draussenschule-ladenburg.de

Carolin Rücker hat gemeinsam mit Matthias Kerr, einem Vater aus der Draußenschulgemeinschaft, ein Buch über die Draußenschule, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse geschrieben. Es erscheint im Juni 2024: Natürlich lernen: Schule neu denken: Was Eltern für eine kindgerechte und lebensnahe Schulzeit tun können – Impulse aus der Draußenschule, Kösel Verlag, ISBN: 978-3-466-31198-9

https://www.penguin.de/Buch/Natuerlich-lernen/Carolin-Rueckert/Koesel/e610552.rhd

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