Die Schafe von Anne Mottl haben einen wichtigen Job: Rund um Völkersweiler pflegen sie die Landschaft und bewahren die Artenvielfalt. Doch es gibt immer weniger WanderschäferInnen in der Gegend, die Weideflächen werden knapp. Das Projekt „Neue Hirtenwege im Pfälzerwald“ will die einzigartige biologische Vielfalt schützen und deshalb den Traditionsberuf bewahren – der für Anne Mottl noch so viel mehr ist.

Kein Wort, kein Befehl, keine hektischen Gesten. Es ist vollkommen still, als Anne Mottl mit festen Schritten auf ihre Schafe zugeht, die sich alle am Rand der Koppel versammelt haben. Nur Vogelzwitschern erfüllt das Tal bei Völkersweiler, durch das der Triebborn plätschert. Die Schäferin will eigentlich nur kurz schauen, wie die Wiese aussieht, wieviel Futter es noch gibt. Doch sobald sie über den Zaun steigt, setzt sie eine eingespielte Formation in Gang.

Durch das Tal bei Völkersweiler, in dem Anne Mottls Schafe grasen, führen auch einige Wanderwege.

Border Collie Luka springt mit einem eleganten Satz über den Zaun und rennt sofort nach links. Ihre Kolleginnen Rike und Lexie übernehmen die rechte Seite. Die Schafe setzen sich in Bewegung, scheinbar alle zugleich. Mit wippenden Köpfen, schwingenden Ohren und leisem, grasgedämpftem Hufgetrappel eilen sie ihrer Hüterin hinterher. Dicht an dicht, wie ein einziger, vielköpfiger Organismus. Einmal rund um das Gestrüpp in der Mitte der Koppel herum.

Folgen ihrer Chefin auf Schritt und Tritt: 250 Schafe – darunter auch einige schwarze.

Ein Schauspiel. Eines, das keine Anweisungen mehr benötigt. „Die Hunde wissen, was zu tun ist“, sagt Anne Mottl später. Die innere Verbindung, von der sie spricht, ist hier draußen bei jeder Bewegung der Tiere zu sehen. Anne Mottl ist mit Schafen und Hunden aufgewachsen. In den 1970er-Jahren hat sich ihr Vater sein erstes Schaf gekauft. Als Hobby zunächst, er war eigentlich Polier auf der Baustelle. Doch die Tiere faszinierten ihn – und wenige Jahre später zog er mit einer Herde von über 1000 Schafen über die Hänge des Pfälzerwaldes. Anne Mottl und ihre zwei Schwestern waren immer mit dabei. Bei Wind und Wetter. „Ich weiß nur zu gut, was Frostbeulen sind“, sagt sie und lächelt. 2009 verstarb ihr Vater – und Anne Mottl übernahm die Herde. „Ich habe da überhaupt nicht darüber nachgedacht, ich habe es einfach gemacht.“

Anne Mottl ist geradeaus, ehrlich und direkt. „Ich bin kein Fan vieler Worte.“ Doch sie sagt, was gesagt werden muss – auch wenn sie damit aneckt. Das Leben als Wanderschäferin war wohl noch nie so idyllisch, wie es der Anblick einer friedlich weidenden Herde sein mag. Doch in den vergangenen Jahren, sagt Anne Mottl, sei der Beruf deutlich härter geworden. „Man braucht schon ein dickes Fell.“ Es gibt kaum noch zusammenhängende Weideflächen im Pfälzerwald. „Es kann sein, dass auf einer Wiese, die ich mit meinen Schafen jahrelang gepflegt habe, plötzlich Pferde stehen und ich nicht mehr drauf darf.“ Durch die Gegend ziehen, so wie es ihr Vater früher gemacht hat, ist mittlerweile fast unmöglich geworden. Auch, weil es sich finanziell kaum noch lohnt.

„Im Winter müssen die Schafe moppelig und gut genährt sein“

Ihre Tätigkeit bezeichnet Anne Mottl als „moderne Wanderschäferei“. Sie ist jeden Tag bei ihren Schafen, zieht aber oft nur noch von Koppel zu Koppel. So wie heute. Bereits nach einem Tag ist die Weide abgegrast, die Schafe müssen umziehen. Auch das hat sich geändert. „Die Sommer werden immer heißer, die Wiesen sind oft völlig ausgebrannt und können das über den Winter nicht mehr aufholen.“ Die Konsequenz: „Auf einer Fläche, die früher 500 Schafe ernährte, bekomme ich heute kaum noch 200 Tiere satt.“ Die Hirtin hält auch nichts davon, die Wiesen bis auf die Grasnarbe herunterzuweiden. „Wir sind ja schließlich zur Pflege da.“ Also bereitet ein Mitarbeiter ein paar hundert Meter weiter bereits die nächste Einzäunung vor. Jeden Tag ein neuer Zaun, eine neue Koppel: Ein harter Job, aber notwendig. „Im Winter ist es besonders wichtig, dass die Schafe moppelig und gut genährt sind.“ Noch 2010 hatte Anne Mottl eine Herde mit 500 Muttertieren. Heute sind es nur noch rund 250 – und sie überlegt, weiter zu reduzieren.

Jeden Tag baut Anne Mottl die alten Zäune ab und eine neue Koppel auf.

So wie Anne Mottl geht es vielen SchäferInnen – in ganz Deutschland. Viele verkleinern ihre Herde, manche geben ganz auf. Dabei ist ihr Nutzen unbestritten. Schafe sorgen dafür, dass Landschaften offen bleiben. Sie verhindern, dass Wiesen mit Unkraut oder wilden Büschen überwuchert werden und düngen sie gleichzeitig. In ihrem Fell tragen sie zudem die Samen vieler Pflanzen mit sich oder auch mal kleine Insekten – und schaffen so als „Samentaxis“ einen lebenden Biotopverbund mit einer hohen Artenvielfalt.

Dichter Wald und offene Landschaft – das macht den Pfälzerwald auch bei Wanderer so beliebt.

Beim Biosphärenreservat Pfälzerwald-Nordvogesen weiß man um die Bedeutung der WandschäferInnen und hat deshalb das Naturschutzgroßprojekt „Neue Hirtenwege im Pfälzerwald“ ins Leben gerufen, das vom Bundesumweltministerium, dem Land Rheinland-Pfalz sowie dem Bezirksverband Pfalz  gefördert wird. „Die Kulturlandschaft des Pfälzerwalds hat sich über Jahrhunderte entwickelt“, erklärt Projektleiter Helmut Schuler. „Sie lebt von dem Wechselspiel von dichtem Wald und offener Landschaft. Um diese zu erhalten und die Artenvielfalt zu bewahren, brauchen wir die Schafherden.“ Und diese wiederum brauchen zusammenhängende Weideflächen und die Sicherheit, dass sie diese auch langfristig nutzen können.

Streuobstwiesen erhalten und pflegen – auch das ist ein Ziel des Hirtenweg-Projekts. Auch dabei spielen die Schafe eine wichtige Rolle.

In der ersten Phase des Projekts geht es um eine Bestandsaufnahme. Biotoptypen werden erfasst, Beobachtungsflächen eingerichtet. „Wir wollen herausfinden, wo genau Flächen benötigt werden“, sagt Helmut Schuler. Um so etwa den Lebensraum des Wiesenknopf-Ameisenbläulings, eines selten gewordenen Schmetterlings, wieder zu vergrößern. Vermutlich ab 2023 sollen diese Grundstücke dann erworben oder gepachtet werden. Damit die WanderschäferInnen in Zukunft die Sicherheit haben, diese Flächen langfristig nutzen zu können. Bis dahin gilt es, viele verschiedene Interessen zu berücksichtigen, Hobby-Tierhalter einzubinden und die Bevölkerung vor Ort mitzunehmen. Das sei nicht immer ganz einfach, gibt Helmut Schuler zu – und dauere oft  länger als gedacht.

Es wird dämmrig im Pfälzerwald. An den bewaldeten Hängen kriechen bereits Nebelschwaden ins Tal, auf der anderen Seite ragen nur noch die Felsformationen der Luger Geiersteine durch die Wolken. Zahlreiche Wanderwege führen durch diese abwechslungsreiche Landschaft, in sanfte Täler, durch alten Wald, auf bizarre Felsen. Anne Mottel liebt diese Gegend, ihre Heimat. „Ich bin wirklich froh, dass wir hier noch sein dürfen“, sagt sie. Nach einem Ausflug zur nahgelegenen Streuobstwiese und ein paar Äpfeln als Snack, ist es Zeit für die Schafe, ihr Quartier für die Nacht zu beziehen. Anne Mottl pfeift dreimal und sofort schießen die Hunde los. Sie sammeln alle Schafe ein und bereits wenige Minuten später grasen alle auf der Koppel.

„So ein Schaf ist ein Fass ohne Boden“, sagt Anne Mottl. Nach einem Tag hat die Herde die Weide komplett abgegrast.

Anne Mottl würde gerne mehr Zeit mit ihren Schafen verbringen. Sobald sie in der Nähe ist, weichen die Tiere kaum von ihrer Seite. Vor allem ihr Leittier, ein großgewachsenes englisches Suffolk-Schaf, stellt sich oft mitten in den Weg und verlangt hartnäckig nach Aufmerksamkeit und der ein oder anderen Streicheleinheit. „Es sind Schafe – sie wollen gehütet werden.“ Aber Mottl hat längst mehrere Standbeine. Sie kümmert sich noch um eine Herde Galloway-Rinder und stemmt weitere Projekte, um ihr finanzielles Auskommen zu sichern.

Ein Leben ohne Schafe kann sich Anne Mottl nicht vorstellen.

Die Schäferin unterstützt das Hirtenweg-Projekt und bringt an Hütetagen regelmäßig Menschen ihren Beruf näher. Doch es fällt ihr auch schwer, ihre Ungeduld zu verbergen. „Nicht sicher zu wissen, wohin man am nächsten Tag mit den Schafen kann – das zermürbt auf Dauer.“ Sie hätte gerne die Sicherheit, dass ihr Beruf tatsächlich eine Zukunft hat. Denn ein Leben ohne Schafe kann sie sich nicht vorstellen. „Es ist dieser Geruch, nach Wollfett, der muss immer da sein.“ Sie lächelt. Es ist der Geruch ihrer Kindheit.


www.hirtenwege-pfaelzerwald.de

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