Villen, die seit Jahrzehnten leerstehen, Fabriken, die nichts mehr produzieren und Dörfer, in denen keine Menschen mehr wohnen. Vivien Räbiger aus Neustadt hält den Zerfall dieser vergessenen Orte mit ihrer Kamera fest. Für sie sind es Zeitkapseln – an denen sie nichts hinterlässt außer Fußabdrücke und nichts mitnimmt außer ihren Aufnahmen. Ein Besuch im Panzerwald bei Mannheim. Und ein Gespräch über ein ungewöhnliches Genre der Fotografie.

Sie tauchen auf zwischen Bäumen, hinter Büschen, mitten im Wald: Mauern aus Beton, Stacheldraht. Bunker, die der Wald fast schon verschluckt hat. Eine Schießanlage. Panzerwald nennen die Einheimischen das Gebiet zwischen Mannheim, Lampertheim und Viernheim. Weil die US-Armee hier jahrzehntelang trainierte, Handgranaten flogen, Schützenpanzer über Dünen walzten. 2012 kehrte endgültig Ruhe ein. Die US-Armee räumte das Gebiet und die Länder gaben es der Natur zurück.

Wann hallte der letzte Schuss? Hinter dem Kugelfang einer Schießanlage zwischen Lampertheim-Neuschloß und -Hüttenfeld.

Geblieben sind stille Zeugen der Vergangenheit, die langsam zerfallen. Doch verlassen sind die Orte nicht. Bei jedem Schritt hüpft, springt und raschelt es durch das Gras. Dort, wo einst das Töten trainiert wurde, wimmelt es vor Leben. Die Natur erobert sich das Gebiet zurück. Aus Betonspalten wuchern Gräser, der Schotter einer ehemaligen Schießanlage ist übersät von kleinen Kiefern, manche erst fingergroß. Vivien Räbiger steht vor einer kleinen, zarten Mohnpflanze, die sich durch die Steine kämpft. Sie lächelt und hebt ihre Kamera.

wo sonst: Finden Sie solche Orte trostlos?

Vivien Räbiger: Trostlos? Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil! Ich habe mal in einem Kühlturm eines stillgelegten Kraftwerks fotografiert. Ein kolossales Ding aus Beton. Und mittendrin krabbelte ein Marienkäfer. Ich finde das total beruhigend, so wie hier: Wir können nicht alles kaputt machen. Sobald wir Menschen einen Ort verlassen, kehrt die Natur zurück. Vielleicht leben dann andere Tiere dort. Gut möglich, dass hier früher kein Mohn wuchs. Aber die Natur findet immer einen Weg.

wo sonst: Was reizt Sie daran?

Räbiger: Genau diese Kontraste. Zwischen Verfall und neuem Leben. Zwischen Zivilisation und Natur. Und natürlich reizt mich auch die Geschichte. Diese Orte haben so viel zu erzählen!

wo sonst: Wann haben Sie angefangen, solche verlassenen Orte zu fotografieren?

Räbiger: Als ich so 15, 16 Jahre alt war. Mit einer kleinen Kompakt-Kamera. Ich bin in Berlin aufgewachsen und habe vor allem Freunde fotografiert oder Alltagssituationen auf der Straße. Aber nach ein paar Jahren habe ich die Kamera wieder weggelegt, mir hat einfach das Motiv gefehlt.

wo sonst: Und wie haben Sie das passende Motiv gefunden?

Räbiger: Das hat eher mich gefunden. Ich habe 2010 angefangen zu studieren, Grundschullehramt, und bin dafür nach Landau gezogen. Irgendwann hat mich mein Freund in eine verlassende Papierfabrik mitgenommen. Ich fand das so cool! Die Atmosphäre, die Ruhe, die Stille. Es war, als wäre die Zeit dort einfach stehengeblieben. Wie in einer Zeitkapsel. Kurz darauf bin ich noch einmal hin, diesmal mit meiner Kamera. Das hat mich gepackt. Ich habe angefangen, gezielt nach Lost Places zu suchen und meine erste Tour durch Deutschland, Belgien und Luxemburg geplant.

Wer saß auf diesem Stuhl? Verlassene Fabrik bei Neustadt.

wo sonst: Wie finden Sie Lost Places?

Räbiger: Erstmal frage ich Google. Dann recherchiere ich gezielt weiter. Mittlerweile erkenne ich auf Satellitenkarten, wo alte Gebäude versteckt sind – auch wenn sie schon überwuchert sind. Etwa anhand der Schatten. Manchmal reicht es auch, mit wachem Blick durch eine Stadt zu gehen. Oder mit einer guten Nase. Wenn ich durch eine Straße laufe und diesen modrigen Geruch wahrnehme – dann bin ich gleich elektrisiert!

wo sonst: Und was sind das für Orte?

Räbiger: Verlassene Villen, in denen noch die gesamte Einrichtung steht, mit Piano und Fotoalben. Als wären die Bewohner völlig überstürzt abgereist. Ehemalige Arztpraxen, wo sogar noch Krankenakten liegen, oder leerstehende Fabriken, in denen noch fast alle Maschinen stehen. Auch ganze Dörfer. Wie das belgische Dorf Doel, das dem wachsenden Antwerpener Hafen weichen muss. Auf Ibiza habe ich mal in einem verlassenen Hotel übernachtet. Direkt am Meer. Das war unglaublich.

Welche Melodien erklangen hier? Szene aus einer Villa in Hessen.

Urbex nennt sich die Szene, kurz für Urban Exploration. Es bezeichnet das Entdecken und Fotografieren verlassener Gebäude. Überall auf der Welt hat Vivien Räbiger bereits Lost Places mit ihrer Kamera erforscht. In der Region sind es vor allem ehemalige Militärstandorte, sie hat aber auch schon das Pfaffwerk in Kaiserslautern für eine Ausstellung fotografiert, in dem früher Nähmaschinen hergestellt wurden, oder war auf dem ehemaligen Militärgelände in Landau, das zur Landesgartenschau weiterentwickelt wurde und heute ein Wohngebiet ist. Aus ihrer Leidenschaft wurde schließlich ein Beruf. Neben ihrer Arbeit als Deutschlehrerin für Migranten, arbeitet sie als Hochzeitsfotografin.

Wer ging durch diese Türen? Das Pfaffwerk in Kaiserslautern, in dem früher Nähmaschinen hergestellt wurden.

wo sonst: Hochzeiten und zerfallene Orte… größer kann der Kontrast ja kaum sein!

Räbiger: Ich mag ja Kontraste! Aber so empfinde ich das auch gar nicht. Mir kommt es bei beidem darauf an, Momente für die Ewigkeit festzuhalten. Irgendwann werden die Gebäude ganz zerfallen – oder abgerissen. Dann sind meine Bilder eine Erinnerung daran, was einmal war. Ich will die Atmosphäre festhalten, die Stimmung so rüberbringen, wie ich sie vor Ort empfunden habe. Dazu bearbeite ich meine Bilder auch, verstärke etwa das Spiel von Licht und Schatten. Aber ich würde nie etwas einfügen, was vorher nicht da war oder vor Ort etwas verändern.

wo sonst: Nie?

Räbiger: Nein, ich halte mich da an das Motto der Szene: Lass nichts da außer Fußabdrücke und nimm nichts mit außer Fotos. Wenn man mit offenen Augen durch diese Gebäude geht und sich Zeit nimmt, findet man immer gute Motive. Sie sind vielleicht nicht immer sofort offensichtlich.

Was geschah? Auch ohne Drapieren findet Vivien Räbiger spektakuläre Motive. Wie hier in einer Pfälzer Fabrik.

Durch hüfthohes Gras geht Räbiger langsam auf einen Bunker zu. Die schwere Schiebetür steht einen Spalt offen. Hier, nördlich von Viernheim, reiht sich Bunker an Bunker: das ehemalige Munitionsdepot Lorsch. Nach wenigen Schritten wird Räbiger von der Dunkelheit verschluckt. Sie setzt sich auf den kühlen Betonboden, lässt den Blick schweifen und wartet, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Dann holt sie ihre Kamera und nimmt einen Baumstamm ins Visier, den irgendjemand hierher geschleppt hat. Einige Minuten sitzt sie fast regungslos da, nur das Klicken der Kamera hallt ab und an durch den Bunker.

Räbiger: Das ist so ein Motiv. Viele Lost-Place-Fotografen hätten den Baumstamm sicher ignoriert, weil er mit dem Gebäude nichts zu tun hat. Aber er liegt genau in dem Lichtstrahl, der noch in den Bunker dringt. Das sieht doch klasse aus! Ich mag Lichtspiele, Muster und Linien. Mir geht es nicht darum zu dokumentieren, dass ich an diesem oder jenem supercoolen Ort war.

wo sonst: Also keine Trophäenjagd?

Räbiger: Natürlich gibt es Orte, an die ich unbedingt noch gehen will. Aber ich lege die Kamera oft auch bewusst weg, manchmal mache ich gar keine Bilder. Nicht, weil der Ort langweilig ist. Ich kann auch einfach von Raum zu Raum wandern und mir vorstellen, wie die Leute da früher gelebt und gearbeitet haben. Wenn dort noch alte Zeitungen und Fotos liegen – damit kann ich mich stundenlang beschäftigen. Dann nehme ich eben nur Erinnerungen mit.

Wo sind die Besitzer? Garderobe einer Arztpraxis in Hessen.

wo sonst: Kommen Sie sich dann nicht manchmal wie ein Eindringling vor?

Räbiger: Nein. Die Orte wurden ja meist vor langer Zeit verlassen. Oft ist auch gar nicht mehr klar, wer eigentlich der Besitzer ist. Manchmal leben in den Gebäuden Obdachlose. Dann gehe ich wieder. Ich will auf keinen Fall jemanden stören.

wo sonst: Aber die Orte sind ja nicht gerade einfach zugänglich.

Räbiger: Das ist sehr unterschiedlich. Bei manchen ist der Besitzer einverstanden und es gibt sogar offizielle Fototouren. Bei anderen ist es Hausfriedensbruch – auch wenn niemand mehr ein Interesse daran hat. Manche sind auch offen zugänglich, wie hier. Aber an solchen Orten ist oft nicht mehr viel zu sehen. Sobald Lost Places bekannt werden, wird vandaliert und zerstört. Deshalb halten wir Fotografen die Orte ja meist geheim – es ist schließlich dieser natürliche Verfall, der den Reiz ausmacht.


Homepage von Vivien Räbiger

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