Ihre ganz persönliche Verbindung zu den Kleindenkmälern hat allerdings einen recht profanen Ursprung, eigentlich sogar einen kriminellen: In den 1980er Jahren häuften sich Diebstähle, Unbekannte montierten immer wieder die Köpfe der Bildstöcke ab. Felicitas Zemelka war damals gerade mit ihrem Mann in die Region gezogen. Eigentlich hatte sie das Staatsexamen als Gynmasiallehrerin in Mathematik und Geographie in der Tasche, doch durch die Lehrerschwemme war es schwierig, eine Stelle zu finden. Der Verein Odenwälder Bauernhaus wollte 1985 ein Inventar der Bildstöcke erstellen lassen. „Man hatte gemerkt: Hier wird etwas gestohlen, was typisch für die Landschaft ist.“ Zemelka jedenfalls nahm sich der Sache an. Die Diebstahlserie hörte auf – und die gebürtige Pfälzerin hatte eine Aufgabe gefunden, die sie die kommenden Jahrzehnte begleiten würde.
„Für mich ist das Kultur- und Religionsgeschichte.“
Sie fuhr von Bildstock zu Bildstock, suchte Inschriften, machte Fotos, recherchierte in Kirchenbüchern oder im Gedächtnis der Dorf- und Stadtbewohner. Mit den bestehenden Listen gab sie sich nicht zufrieden. Fast die Hälfte der Kleindenkmäler standen zuvor in keiner Bestandsaufnahme. Manch einer finde die Bildstöcke altertümlich, sagt sie. „Für mich ist das Kultur- und Religionsgeschichte.“ Und die ist manchmal recht prominent. Etwa in Form der Mariensäule in der Buchener Innenstadt. 1754 wurde sie errichtet, die Figur auf ihrer Sandsteinsäule sollte die Stadtbewohner vor allerlei Unbill bewahren, wahrscheinlich auch vor der Pest, die besonders im 17. Jahrhundert in der Region gewütet hatte. Sie wurde zum Wahrzeichen des Madonnenländchens. „Für viele Menschen hier ist sie Teil ihrer Identität“, sagt Felicitas Zemelka.

Das Wahrzeichen des Madonnenländchens: Die Mariensäule in der Buchener Innenstadt.
Auch Christusfiguren oder Abbildungen der Heiligen Familie erinnern an Unglücksfälle oder Notzeiten. Wer mit Felicitas Zemelka unterwegs ist, entdeckt sie auch dort, wo man sie eigentlich übersehen würde. In grünen Hecken oder inmitten einer Hausmauer, die nachträglich um den Bildstock „herumgebaut“ wurde.

Leicht zu übersehen, aber viel zu erzählen: Einige Bilderstöcke liegen versteckt in grünen Hecken.
Am Rande eines Feldes oberhalb von Oberneudorf macht Felicitas Zemelka Halt. Ein Hochkreuz mit einem Corpus Christi ragt in den blauen Himmel. Das weitläufige Feld dahinter war Ende des 19. Jahrhunderts Schauplatz eines tragischen Unfalls: Bei Erntearbeiten löste ein Vater die Bremse eines Wagens, sein Sohn wurde überrollt und starb. Noch immer erinnert das Kreuz an sein Schicksal. „Wer hier vorbeigeht, wird aufgefordert, ein Gebet für den Verstorbenen zu sprechen“, sagt Felicitas Zemelka. Wo Unfälle passiert sind, bitten die Denkmäler um Gottes Gnade für den Verstorbenen. „Und sie erinnern an die Vergänglichkeit des irdischen Lebens.“

Doch die christlichen Symbole können auch ein Sühnezeichen sein. Ein wuchtiges Steinkreuz steht zum Beispiel an einer Anhöhe am Rand von Hollerbach. „Sie waren Teil eines Rechtsbrauchs“, erklärt Zemelka. Sie stammen aus einer Zeit, in der es noch keine juristische Rechtsprechung gab, wie wir sie heute kennen. Wer im Streit einen Kontrahenten erschlagen hatte, musste zum Seelenheil des Opfers beitragen, indem er unter anderem ein Steinkreuz stiftete.

Felicitas Zemelka programmiert heute Webseiten, ihre frühere Aufgabe als Volkskundlerin ist ihr als Hobby, als Leidenschaft geblieben. Ans Aufhören denkt sie nicht. „Was ich mache, ist immer nur eine Momentaufnahme, die Forschungen findet immer neue Aspekte.“ Denn die Kleindenkmäler mögen wie Relikte der Vergangenheit wirken, doch in Wirklichkeit herrscht ständige Bewegung. Alte Denkmäler werden restauriert und versetzt, verschwinden, neue kommen hinzu. Auch heute noch.

Volkskundlerin aus Leidenschaft: Felicitas Zemelka vor dem Bildstock zwischen Buchen und Oberneudorf.
Da ist zum Beispiel ein Bildstock aus dem 18. Jahrhundert am Wallfahrtsweg zwischen Buchen und Oberneudorf, von dem vor einigen Jahren nur noch der Schaft übrig war. Der Kopf zeigte früher ein Bildnis der Heiligen Familie: Jesus zwischen Maria und Josef. Doch er war der Diebstahlserie der 80er zum Opfer gefallen. Eine Gruppe, die regelmäßig von Ubstadt-Weiher nach Walldürn pilgert, störte sich an dem Anblick. Und so fertigte der Steinbildhauer Elmar Göbel einen neuen Kopf, versehen mit einer Hommage an die Auftraggeber. Felicitas Zemelka tritt an den Bilderstock heran, zeigt die schmale Seite rechts: Die Umrisse einer Menschengruppe sind dort eingraviert, ein Gruß an die Pilger.

Noch ist Zemelkas Wissen nur auf ihrem Computer gespeichert. Doch sie arbeitet gerade an einer Ausstellung, die an verschiedenen Orten der Gegend gezeigt werden soll. Auf Wander- oder Radrouten will sie Ausflügler zu den Denkmälern führen. Ein Buch könnte aus der Zusammenstellung entstehen. Vor allem aber eine Datenbank. „Irgendwann werde ich nicht mehr da sein, dann sollen Heimatvereine oder andere Geschichtsinteressierte darauf zugreifen können und die Daten fortschreiben.“

Ein Lieblingsdenkmal hat Felicitas Zemelka übrigens nicht. Allerdings hat sie einen sehr persönlichen Bildstock daheim. Ihr Vater hat ihn angefertigt. Er hatte sie zu Beginn oft auf ihren Touren zu den Denkmälern begleitet. Eines davon bildete er nach und schenkte es seiner Tochter. Heute steht es in ihrem Garten. Ein Denkmal der Familiengeschichte.
Wanderung durchs Madonnenländchen