Einmal im Monat öffnet die Schloss-Schule für Sehbehinderte und Blinde in Ilvesheim ihre Türen für ein besonders Erlebnis. Denn bei der Veranstaltungsreihe „Kultur im Dunkeln“ bleibt das Licht aus. Eine Herausforderung und ein sinnlicher Abend – für Künstler:innen, Zuschauer:innen. Und unsere Autorin Sarah Weik.

Lieber nicht bewegen. Seit ich die Augenbinde über das Gesicht gezogen habe, verharre ich an Ort und Stelle. Ich weiß, dass viele Menschen um mich sind, ich will niemanden anrempeln oder auf die Füße treten. Um mich ein wildes Stimmengewirr. Aus dem sich eine Stimme immer klarer herauskristallisiert, jung und freundlich: „Hallo, ich bin Sidney, ich möchte Sie gerne reinführen.“ Ich spüre Sidneys Hand, die nach meiner tastet. Langsam geht er los, ich hinterher. Auf dem Weg spüre ich ein paar Schultern und Arme, es ist eng hier. Doch dann ändert sich die Akustik, die vielen Stimmen verteilen sich, werden leiser, hallen mehr. „Ah, ich bin in der Aula“, denke ich. Sidney geht nun etwas schneller, ich tripple hinterher. Meine Füße trauen der Sache nicht ganz. Dann bleibt Sidney stehen. „Wir sind an Ihrem Platz.“ Er legt meine Hand auf die Lehne, ich ertaste den Stuhl und setze mich.

Ungewöhnlicher Konzertbeginn: Erstmal eine Augenbinde aufsetzen.

Seit 2003 gibt es die Veranstaltungsreihe „Kultur im Dunkeln“ an der Schloss-Schule in Ilvesheim. In dem schönen Barockbau mitten in der Gemeinde residierte einst Lothar Friedrich von Hundheim, erster Minister des Kurfürsten Johann Wilhelm. Heute lernen hier blinde und sehbehinderte Schüler:innen. Es ist die einzige öffentliche Schule dieser Art in Baden-Württemberg. Gunter Bratzel unterrichtet seit über 30 Jahren hier. Er hatte die Idee zu den ungewöhnlichen Veranstaltungen. „Vor einigen Jahren hatten wir ein Café im Dunkeln. Das kam sowohl bei den Schülern als auch bei den Gästen richtig gut an.“ Bratzel war überzeugt: „Was kulinarisch gelingt, funktioniert bestimmt auch auf kultureller Ebene.“ Er kannte einige Künstler:innen und fragte einfach mal an, ob sie Lust auf einen Auftritt ohne Licht hätten. „Die Idee hat alle sofort begeistert.“ Seitdem findet „Kultur im Dunkeln“ jedes Jahr statt und bietet von September bis März ein buntes Programm: Vor allem Konzerte von Pop bis Jazz, aber auch Improvisationstheater oder Comedy. Alles in völliger Dunkelheit. 

Schüler:innen der „Kultur im Dunkeln“-AG führen die Zuschauer:innen an ihre Plätze.

Langsam gewöhne ich mich daran, nichts zu sehen und konzentriere mich darauf, was ich hören kann. Neben mir reden zwei Frauen miteinander, eine Stimme klingt sehr nah. Auf dem Stuhl neben mir sitzt also jemand. Dann begrüßt Gunter Bratzel die Gäste und kündigt an, dass er nun das Saallicht löschen wird. Nicht alle Gäste haben sich für eine Augenbinde entschieden, das Tragen ist freiwillig. Doch die Veranstaltung selbst erleben alle im Dunkeln. Das Licht geht aus – ich höre es am Raunen, das durch den Saal geht. „Wenn Sie raus möchten, sagen Sie das bitte laut“, sagt Bratzel noch. „Denken Sie nicht, Sie schaffen das alleine. Erst letzten Monat haben wir einen Besucher hinter dem Klavier herausgeholt.“

Wer Hilfe braucht, bekommt sie von den Schüler:innen der „Kultur im Dunkeln“-AG, zu der auch Sidney gehört. Gunter Bratzel hat sie ins Leben gerufen als klar war, dass die Veranstaltung keine einmalige Sache bleiben wird. Jedes Jahr helfen ihm rund zehn Schüler:inn dabei, die Reihe zu organisieren. Wie Sidney und sein Freund Paul, die beide selbst leidenschaftlich gerne Musik machen und eine Schülerband gegründet haben. „Aus Liebe zur Musik“, haben sie sich für die AG entschieden, wie Paul es formuliert. Die Hauptaufgabe der Mitglieder ist die Betreuung der Zuschauer:innen.

Die Gäste merken, dass Musik auch im Dunkeln richtig toll ist – vielleicht sogar besser. Weil: wenn man nichts sieht, hört man umso besser hin

Paul, Schüler an der Schloss-Schule

„Mir macht es sehr viel Spaß, die Leute an ihren Platz zu bringen“, erzählt Emily. „Man muss höflich sein und auch vorsichtig – manche sind wirklich total orientierungslos, wenn sie die Augenbinde aufhaben.“ Sie lacht. Dass sie an diesem Abend trotz Dunkelheit immer den Durchblick bewahren und anderen Menschen mit dieser Fähigkeit helfen können, macht die Schüler:innen stolz. „Und die Gäste merken, dass Musik auch im Dunkeln richtig toll ist – vielleicht sogar besser. Weil: wenn man nichts sieht, hört man umso besser hin“, sagt Paul.

Emily macht es großen Spaß, die Zuschauer:innen an ihren Platz zu begleiten.

Eine Tür fällt ins Schloss, dann ertönt eine Stimme aus dem hinteren Teil des Saals. „Hallo! Könnt ihr mal bitte so lange klatschen, bis wir vorne sind?“ Die Mitglieder von John Beton & the five Holeblocks, die heute bei Kultur im Dunkeln auftreten, haben also die Schul-Aula betreten. Das Publikum lacht und fängt an, rhythmisch zu klatschen. Erst noch enthusiastisch, nach einigen Minuten schon deutlich leiser. „Eh, wir sind noch nicht vorne!“ erinnert eine Stimme, das Klatschen wird wieder lauter. Nach einigem Rumpeln sind die fünf Sänger auf der Bühne angekommen. Ihre Stimmen erklingen direkt vor mir: Sitze ich in der ersten Reihe? Die Gruppe macht A-Cappella-Comedy und das heute ganz ohne elektronische Verstärkung. „Jedes Mikro, jedes Mischpult hat Lichter“, hat Gunter Bratzel zuvor erklärt. „Das würde das Erlebnis nur stören.“

Erinnerungen an vergangene Veranstaltungen: Die „Kultur im Dunkeln“-AG hält alles in einem Gästebuch fest.

Auch für die Künstler:innen ist der Auftritt ein besonderes Erlebnis – und eine Herausforderung. Nicht nur deshalb, weil sie den Weg Richtung Bühne im Dunkeln finden müssen. „Wir singen a Capella – idealerweise natürlich alle in der gleichen Tonlage“, erklärt Sebastian Müller von John Beton & the five Holeblocks. Normalerweise gibt Bass Matthias Kunkel den Ton an. Mit einer kleiner Tröte, die den Anfangston auf einem kleinen Display anzeigt. „Nutzlos im Dunkeln“, sagt Müller. Deshalb hat er seine Ukulele dabei, nach deren Saiten sich heute alle richten. Auf aufwendige Verkleidungen und Kostümwechsel verzichtet die Gruppe heute. „Eigentlich ganz relaxed – wenn man nur nicht die ganze Setliste auswendig lernen müsste!“

Die Sänger von John Beton & the five Holeblocks vor dem Auftritt: Wer geht im Dunkeln voran, wer gibt den Ton an?

„Es gab in der ganzen Geschichte von Kultur im Dunkeln nur ein, zwei Künstler:innen, die gesagt haben, dass ihr Auftritt im Dunkeln schlicht nicht funktioniert“, erzählt Gunter Bratzel. „Alle anderen haben sofort zugesagt.“ Und dass, obwohl die Gage an der Schloss-Schule niedriger und der Aufwand oft deutlich höher ist. „Aber die Erfahrung ist eben doch einmalig.“ Dafür packen alle mit an. „Die Leitung, die Kollegen, die Hausverwaltung, die Schüler – die Reihe ist nur möglich, weil alle dahinter stehen“, sagt Bratzel.

Teamarbeit: Gunter Bratzel mit Helfer:innen und Schüler:innen der „Kultur im Dunkeln“-AG vor der Veranstaltung.

Gunter Bratzel ist eigentlich gelernter Industriekaufmann, schlug aber auf dem zweiten Bildungsweg eine ganz andere Richtung ein. „Die mir deutlich mehr liegt“, wie er sagt. Er war zunächst Jugend- und Heimerzieher, dann Fachlehrer für geistige Entwicklung. An der Schloss-Schule in Ilvesheim landete er eher zufällig. „Ich hatte anfangs durchaus meine Schubladen im Kopf und zugegeben auch Berührungsängste“, erzählt er. Doch schnell merkte er, dass diese – genauso wie Mitleid – völlig fehl am Platz sind. „Die Jugendlichen haben mir sehr schnell gezeigt, dass ihre Welt eben nicht ärmer ist, nur anders. Und dass sie genauso frech und vorlaut, musikinteressiert und weltoffen sind wie alle Jugendlichen.“ Mit Kultur im Dunkeln will er dazu beitragen, Vorurteile und Berührungsängste abzubauen. „Denn dazu muss man sich erstmal kennenlernen. Und genau das macht Kultur im Dunkeln: Es schafft Berührungsmöglichkeiten.“

Kultur im Dunkeln gibt Einblicke in die Lebenswelt blinder Menschen.

Das Konzert ist zu Ende, im Schlussapplaus geht langsam das Licht wieder an. Hell ist das! Und die Aula ganz schön groß! Sie ist vollbesetzt, wie fast immer bei den Veranstaltungen, 80 Zuschauer:innen waren heute da. Im Dunkel hat es sich viel kleiner angefühlt, eher wie ein intimes Wohnzimmerkonzert. Die Musik, die Stimmen klangen viel näher und intensiver als im Scheinwerferlicht. Das macht den Reiz der Konzerte mit aus, sagt Bratzel. Und dass die Zuschauer:innen die Veranstaltungen tatsächlich nur in der Schloss-Schule erleben können. „Das sind einmalige Auftritte. Im Prinzip sind das immer kleine Uraufführungen.“ Bei denen es zwar nichts zu sehen, aber viel zu erleben gibt.


www.schloss-schule-ilvesheim.de/kultur-im-dunkeln/

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