Ein Theater als Kollektiv

Seit 1984 gibt es das Chawwerusch Theater. Angefangen hat das Kollektiv als Wandergruppe im Odenwald, bis es im südpfälzischen Herxheim eine feste Heimat fand. Seit Jahrzehnten zeigt es immer wieder aufs Neue, wie ambitioniertes professionelles Theater auf dem Land aussieht, das bewegt, sich einmischt – und auch mal die halbe Dorfbevölkerung auf die Bühne bringt.

Die Elmar-Weiller-Festhalle in Herxheim summt. Wie in einem Bienenstock gehen Menschen ein und aus, zwischen den Räumen hin und her, die Treppen hoch, die Treppen runter. Tragen Kostüme hierhin, Kulissenteile dorthin. Auf der Bühne im Festsaal wartet ein bronzefarbener Einhornkopf auf seinen Einsatz, im kleineren Nebenraum übt jemand lautstark einen Monolog. Halb Herxheim, so wirkt es, ist heute hier auf den Beinen: Beim Probenwochenende des Chawwerusch Theaters für das Stationentheater „Neuer Wind in Herxe“, ein Höhepunkt des 1250-jährigen Jubiläums, das die Ortsgemeinde 2023 feiert.

Für „Neuer Wind in Herxe“ werden sogar die Figuren des Dorfbrunnens lebendig.

Mittendrin im Bienenstock steht Schauspieler Stephan Wriecz und freut sich sichtlich über das Gewusel. „An dem Stück wirken fast 150 Menschen mit, im Alter von acht bis über 70 Jahre. Es sind allein über 80 Schauspieler:innen – alles Amateure. Die meisten aus Herxheim, aber auch aus der Umgebung“, erzählt er. Hinzu kommt die Nähgruppe, die Baugruppe, die Requisite und die Wegbegleiter:innen, die später die Zuschauer:innen quer durch Herxheim von Station zu Station führen. Und natürlich die sechs professionellen Regisseur:innen und Autor:innen vom Chawwerusch Theater, die für das Stationentheater sechs verschiedene Szenen erarbeitet haben, die zusammen eine große Geschichte erzählen. Sie begleitet fünf fiktive Herxheimer:innen durch die Geschichte des Orts, von den 1960er Jahren bis hinein in die Zukunft.

Kostüme für über 80 Schauspieler:innen: Auch für die Nähgruppe des Chawwerusch eIne Herausforderung,

„Neuer Wind in Herxe“ ist kein alltägliches Chawwerusch-Stück, aber auch kein ungewöhnliches Projekt für das umtriebige Kollektiv. Und es zeigt eindrücklich, was Theater bewirken kann und warum das Chawwerusch ursprünglich gegründet wurde: um Menschen zusammenzubringen und sie für das Theater zu begeistern. Aber vor allem auch, um sie miteinzubinden und zu ermutigen, ihre eigene Geschichte und Geschichten zu erzählen.

Seit 1984 gibt es die Gruppe, die im Laufe der Jahre eine Vielzahl von Preisen eingesammelt hat. „Am Anfang zog das Ensemble noch als Wandergruppe durch das Land“, erzählt Stephan Wriecz. Daher auch der Name. Der Begriff Chawwerusch kommt aus dem Rotwelsch, der Sprache der Räuber und Vaganten – dem fahrenden Volk also. Er bezeichnet eine Bande, die sich für einen Überfall zusammenschließt und dann wieder auseinandergeht. Und genauso machten es die Gründungsmitglieder zu Beginn: Sie wohnten in unterschiedlichen Orten, kamen zum Theaterspielen zusammen und gingen danach wieder auseinander. Das pfälzische „Kafruse“, so ist auf der Internetseite des Theaters zu erfahren, geht auf den gleichen Wortstamm zurück und bezeichnet eine Bande rotzfrecher Kinder. „Chawwerusch ist also eine rotzfreche Theaterbande“, eine, die dazwischenruft, sich einmischt und Missstände aufzeigt.

Dass alle im Produktionsteam an der Entstehung eines Stücks mitarbeiten, dass es gemeinsam weiterentwickelt wird – das ist schon sehr bereichernd.

Schauspieler Stephan Wriecz über die Theaterarbeit im Chawwerusch

Seit 1989 hat das Chawwerusch seinen festen Sitz in Herxheim und seit 2014 mit der „Expedition Chawwerusch“ auch eine junge Sparte. Stephan Wriecz führt jetzt von der Festhalle mitten rein in den Ortskern von Herxheim. Das Theater liegt direkt an der Hauptstraße, im Tanzsaal einer ehemaligen Gaststätte aus dem 19. Jahrhundert. Mit einem Innenhof, in dem ein Feigenbaum und Wein wächst. Auch hier wird geprobt. Gründungsmitglied Walter Menzlaw führt Regie und gibt einer Gruppe Jugendlicher Anweisungen, die in ihren Rollen auf der Bühne gegen ihre konservativen, religiösen Lehrer:innen rebellieren. Bis zu 135 Gäste finden hier zwischen den weißgestrichenen Holzsäulen Platz. Wie ein U umschließt eine Empore den Zuschauerraum. Von dort führt eine Treppe hinauf auf den Dachboden. Auf rund 100 Quadratmetern lagern Requisiten und Klamotten, die Geschichten erzählen können von den über 120 Stücken, die das Kollektiv mittlerweile aufgeführt hat. Nicht nur im eigenen Theatersaal. „Rund die Hälfte der Auftritte finden hier statt“, erklärt Stephan Wriecz, „aber wir sind auch immer viel unterwegs.“ So gibt es gerade zur Freiluftsaison im Sommer immer Stücke, mit denen das Chawwerusch, wie zur Anfangszeit, durchs Land zieht. 2023 ist das unter anderem „Animal Farm“ nach George Orwell.  

Schuhe für jeden Anlass und jedes Jahrzehnt schlummern im Fundus des Chawwerusch.

Dass sie sich auf dem Land niedergelassen haben, war für das Kollektiv eine ganz bewusste Entscheidung. Denn das Chawwerusch erzählt Geschichten am liebsten „von unten“, bringt nicht das Leben der Mächtigen, sondern das der „kleinen“ Leute auf die Bühne. Ein Theater in der Tradition des kritischen Volkstheaters. Alternativ, ambitioniert und auch mal unbequem. Auch dann, wenn Laienschauspieler:innen mitwirken und auch dann, wenn es ein Stück zur Jubiläumsfeier der eigenen Heimat wird. „Da wird nichts verklärt und schöngeredet“, sagt Stephan Wriecz – im Gegenteil. „Neuer Wind in Herxe“ thematisiert unter anderem Feminismus, Rassismus und nimmt Bezug auf die gesellschaftlichen Reibungen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2015, die es auch hier im Ort gab.

Theaterarbeit: Im Chawwerusch immer ein Prozess im Kollektiv.

Wriecz selbst ist seit 2012 Mitglied im Kollektiv. Damals suchte das Chawwerusch Gastschauspieler. Er wohnte zu der Zeit in Mannheim, arbeitete unter anderem im Kinder- und Jugendtheater des Pfalzbaus in Ludwigshafen. „Ich kam dann in die Pfalz – und die Chemie hat sofort gestimmt.“ Es war die Zeit, in der sich die erste Chawwerusch-Generation überlegte, wie sie das Haus in die Zukunft führen will. „Sie haben dann Miriam Grimm und mich angesprochen, ob wir einsteigen und gemeinsam die junge Sparte leiten wollen.“ Wriecz sagte zu. Obwohl er, wie er zugibt, früher wohl nie daran gedacht hätte, dass er mal mitten in der Südpfalz landet. Doch die Arbeit im Kollektiv reizte ihn. „Dass alle im Produktionsteam an der Entstehung eines Stücks mitarbeiten, dass es gemeinsam weiterentwickelt wird und man eben nicht nur das Endprodukt auf die Bühne bringt, das ist schon sehr bereichernd. Man ist hier nie nur Schauspieler.“ Wie viele Chawwerusch-Stücke beruht auch „Neuer Wind in Herxe“ auf Interviews, die das Kollektiv im Vorfeld mit Einwohner:innen geführt hat. Es sind also die eigenen Erzählungen, die sie dann auf der Theaterbühne sehen können – oder an denen sie sogar selbst mitwirken.

Stephan Wriecz reizt die Arbeit im Kollektiv: „Man ist hier nie nur Schauspieler.“

Zurück in der Festhalle läutet Ben Hergl, ebenfalls Mitglied der ersten Stunde, ein helles Glöckchen. Um ihn herum verstummt das Gemurmel und auf der Bühne der Elmar-Weiller-Festhalle werden die Figuren des Dorfbrunnens lebendig. Neben Hergl und Menzlaw sind mit Felix S. Felix und Monika Kleebauer zwei weitere Gründungsmitglieder noch immer aktiv dabei. Sie alle eint die Freude daran, für solche Projekte immer wieder mit Laien zusammenzuarbeiten. „Das hält den Horizont offen“, sagt auch Wriecz. Wie seine Arbeit mit jungen Menschen in der „Expedition Chawwerusch“. Mit dem Stück „Livename“ beschäftigt sich die junge Sparte etwa mit dem Thema Gender. „Das sind oft Themen, die auch für mich neu und spannend sind – und mit denen ich mich sonst vielleicht nicht so intensiv auseinandersetzen würde“, sagt Wriecz.

Er liebt es, junge Menschen fürs Theater zu begeistern. Und wenn dann ehemalige Mitglieder des Jugendclubs „Theaterscouts“ später als professionelle Schauspieler:innen auf der Bühne stehen, wie gerade Moritz Hahn im Stück „Animal Farm“, macht ihn das natürlich stolz. „Seine Mutter spielt übrigens in ‚Neuer Wind in Herxe‘ mit“, ergänzt Wriecz noch. Auch das ist nichts Ungewöhnliches beim Chawwerusch: Das mehrere Generationen einer Familie hier ihre Freude am Theater ausleben. Ob auf oder hinter der Bühne. Ein Theater ganz nah bei und mit den Menschen vor Ort.


https://www.chawwerusch.de/

Hier geht es zu den weiteren Texten unserer kleinen Sommerserie über kleine Theater in der Region, die große Bühnenkunst bieten: https://wosonst.eu/entdecken/wir-machen-theater/

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