In einem Heidelberger Safe ist ein Schatz auf Pergament zu finden, der Codex Manesse. Gehütet wird er von Dr. Karin Zimmermann, die die Historischen Sammlungen der Universitätsbibliothek leitet. Aber was macht das Buch, das die UNESCO mit seinen Texten unter anderen von Walther von der Vogelweide als „Weltdokumentenerbe“ anerkannt hat, so einzigartig?

Mehrere Schafe stecken hier drin. Nicht ein paar. Nein, ganze Herden. Dr. Karin Zimmermann beugt sich über ein sehr großes und sehr dickes Buch und rechnet vor: 426 Blätter hat der Codex Manesse aus dem Mittelalter. „Aus einer Schafshaut bekommt man aber nur zwei Doppelblätter Pergament“, sagt die Leiterin der Handschriftensammlung der Universitätsbibliothek Heidelberg nachdenklich. „Das macht also über 200 Häute.“

426 Blätter auf über 200 Schafshäuten: der Codex Manesse hat nicht nur im übertragenen Sinn ein großes Gewicht.

Schon als dieses Buch vor 700 Jahren entstand, muss der Aufwand enorm gewesen sein. Heute ist der Codex Manesse nicht nur der berühmteste und wertvollste Schatz der Universitätsbibliothek in Heidelberg. Seit ihn die UNESCO zum „Weltdokumentenerbe“ erklärt hat, spielt er in derselben Liga wie etwa die Scheibe von Nebra oder Goethes Nachlass. Versicherungswert – 80 Millionen Euro. „Aber den eigentlichen Wert, den können Zahlen gar nicht erfassen“, sagt Dr. Karin Zimmermann. Sie muss es wissen, denn sie hütet diesen Schatz.

Beeindruckend: Der Konferenzsaal der Universitätsbibliothek Heidelberg.

Die Universitätsbibliothek Heidelberg ist ein ganz besonderes Gebäude, mehr als 100 Jahre alt, mit Säulen und Wendeltreppen, Marmor an den Wänden und Mosaikfußböden. Hier arbeitet die Mediävistin. Was für ein Privileg! Besonders eindrucksvoll ist das Konferenzzimmer, sechs Meter hoch, teilweise holzvertäfelt. In der Mitte ein riesiger runder Tisch mit 16 Stühlen und darüber ein schlichter, aber wunderschöner Kronleuchter. Auf dem Tisch hat die Mittelalter-Expertin etwas vorbereitet. Abgestützt mit zwei Keilkissen liegt eine Kopie des Codex Manesse bereit, aufgeschlagen beim Bild von Walther von der Vogelweide, der der berühmteste unter den Manesse-Dichtern war. Von ihm stammen mit Abstand die meisten Verse. Sein Porträt zeigt ihn auf einem Stein sitzend, genauso wie er es in seinem bekannten Gedicht beschreibt. „Ich saz ûf eime steine und dahte bein mit beine…“ Karin Zimmermann übersetzt ein paar der mittelhochdeutschen Zeilen: „Ich saß auf einem Stein, die Beine übereinandergeschlagen, den Ellenbogen aufgestützt, die Wange in die Hand geschmiegt, und grübelte lange darüber, wie man denn auf dieser Welt leben soll“. Ein ziemlich aktueller Text eigentlich. Walther von der Vogelweide war schon ein ungewöhnlich kritischer Zeitgenosse.

140 Dichter sind im Codex Manesse versammelt. Die Lieder wurden im Mittelalter bei Hofe oder auf Festen von den Minnesängern vorgetragen. Allerdings Noten dazu, die bietet das Buch nicht. Unter den Dichtern sind viele Adelige. Und natürlich beginnt der Band mit dem größten Promi seiner Zeit, mit Kaiser Heinrich VI. Ja, auch der dichtete! Dann folgen Könige, Herzöge, Grafen bis hin zu bürgerlichen Berufsdichtern wie eben Walther von der Vogelweide. Jeder Autor ist abgebildet auf den bunten Miniaturen, idealisiert natürlich, oft zusammen mit Wappen, Pferden, Dienern oder den besungenen Frauen. Bilder und Reime erzählen uns, wie die Menschen lebten und vor allem, wie sie liebten. Meist dichteten sie über ein rein platonisches Begehren. Die Frauen, die da angehimmelt wurden, waren adelig – und verheiratet. „Eigentlich müsste so etwas ja völlig tabu sein, aber im Gedicht war das damals modern“, meint Karin Zimmermann. Es habe sogar das Ansehen der Frau noch erhöht. Aber einige Minnesänger texteten sinnlicher, versteckten echten Sex hinter Metaphern. Der Falke, die geknickte Rose, die stünden für Erotik und wenn ein Morgen besungen wurde, dann ging es eigentlich um die Nacht davor.

Wir sollen das Dokument nicht nur schützen, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich machen

Dr. Karin Zimmermann

Falke, Rosen und andere Anspielungen sind gut in den Bildern zu sehen. Die Feinheiten zu entschlüsseln, das macht Karin Zimmermann Spaß und darüber kann sie auch gut mit ihrem Mann diskutieren, der Kunsthistoriker in der Universitätsbibliothek ist. Die Beschreibung und Auswertung von alten Schriften sei oft ein kompliziertes Puzzlespiel. Wie eine Detektivin gehe sie Hinweisen nach, setze Fragmente zusammen.

In der Universitätsbibliothek, im Erdgeschoss des Lesesaals für Alte Handschriften, wird eine Kopie des Codex Manesse gezeigt

Besonders schwierig zu rekonstruieren und immer noch mit Fragezeichen versehen, ist der Weg des Codex Manesse durch die Jahrhunderte. Man weiß, dass Rüdiger Manesse aus Zürich und sein Sohn die Sammlung der Texte initiierten. Das war ab 1300. Manesse beauftragte vier Maler für die Illustrationen und zehn bis zwölf Schreiber. Die brachten die Verse in gotischer Buchschrift auf’s Pergament. Das Original ging von Zürich aus durch verschiedene Hände. Die Stationen kennt die Wissenschaftlerin auch nicht alle. Aber gesichert ist, dass es Kurfürst Friedrich IV. nach langen Verhandlungen gelang, die Manesse Handschrift 1607 nach Heidelberg zu holen. Als die katholische Liga unter Feldherr Tilly die Stadt eroberte, floh der Kurfürst. Im Gepäck, seine Manesse. Die große Bibliotheca Palatina musste er zurücklassen. Doch später verkaufte jemand den geretteten Schatz, wahrscheinlich sogar seine Witwe. Er landete in Paris, in der königlichen Bibliothek. Aber der Codex Manesse kehrte 230 Jahre später wieder nach Heidelberg zurück. Zu verdanken ist das dem Buchhändler Karl-Ignatz Trübner. Der fädelte einen Ringtausch ein, auf höchster Ebene. „Sehr spannend und von langer Hand geplant,“ erzählt Karin Zimmermann. 1888 kaufte Trübner nämlich mit Geld aus dem Dispositionsfond des Kaisers und Genehmigung von Reichskanzler Otto von Bismarck etliche wertvolle Handschriften aus England. Die wurden dann der Pariser Bibliothèque Nationale zum Tausch für den Codex übergeben. Ein Win-Win-Deal! Mit viel Glück überlebte der Schatz sogar den Zweiten Weltkrieg: Die US-Army fand das Buch in einem Bunker bei Nürnberg und übergab es 1947 tatsächlich wieder der Universität Heidelberg.

Im Keller der Universitätsbibliothek lagern in nüchternen Regalen wertvolle Schätze.

Jetzt steht das kostbare Stück dort gut verpackt im klimaregulierten Safe. Karin Zimmermann steigt hinunter in den Keller. Zwei große Räume, nüchterne Regale und Metallschränke, Reihe um Reihe. Auch hier hat die Hüterin der alten Schriften etwas vorbereitet, auf dem Ansichtstisch liegt es, abgedeckt. Nein, bedauert sie, den Original-Codex Manesse, den dürfe sie nicht zeigen. Er sei zu empfindlich. Beim Blättern springen leicht kleine Farbpartikel ab. Zum Ausgleich präsentiert sie den prächtigen Einband des Originals, aus der französischen Zeit, gefertigt aus dunkelrotem, feinsten marokkanischem Ziegenleder. Darauf, mit Gold geprägt, die Lilien und die Krone Frankreichs.

Der prächtige Einband des Codex Manesse die Lilien und die Krone Frankreichs sind darauf mit Gold geprägt.

Natürlich spielt Karin Zimmermann schon mit dem Gedanken, den Codex Manesse im Original einmal wieder zu präsentieren, wenn auch nur für kurze Zeit in einer speziellen Ausstellung. „Das erwartetet die UNESCO auch“, sagt sie. „Wir sollen das Dokument nicht nur schützen, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich machen.“ Schließlich sei es eine einmalige Informationsquelle über Sitten und Gebräuche, über Kunst und Liebeslyrik der Stauferzeit. Eben ein Stück „Memory of the World“.


Digital sind alle Seiten und Bilder des Codex zu sehen, – frei verfügbar für alle, sogar zum Durchblättern: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/touch/cpg848/

Im Handschriftenlesesaal im Erdgeschoss der Universitätsbibliothek kann eine Kopie (Faksimile) des Codex Manesse eingesehen werden.

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