Auf den ersten Blick wirken die Altstadt, die Burgen und der Marktplatz beschaulich. Doch in Wahrheit ist Weinheim das Zentrum des Verbrechens. Zumindest seit Bestseller-Autorin Ingrid Noll hier ihr Unwesen treibt und haufenweise Männer sterben lässt – vorzugsweise durch die Hand einer Frau. Auf dem Ingrid-Noll-Weg führt Weinheims bekannteste Bürgerin nun durch ihre Wahlheimat – und begleitet die Besucher:innen per Audio-Guide zu alten Bäumen, Gräbern und giftigen Pflanzen.
Ingrid Noll bestellt Espresso. Dabei böte eine Tasse Tee doch so viel mehr Möglichkeiten, jemanden unauffällig um die Ecke zu bringen. Nicht umsonst heißt das im Herbst veröffentlichte Buch von Deutschlands bekanntester Krimi-Autorin „Tea Time“. Irgendwann brauen dessen Erzählerin Nina und ihre beste Freundin Franzi dem gemeinsamen Widersacher ein Gesöff aus Eisenhut – und fragen sich dann tagelang, ob sie ihn damit umgebracht haben. Die beiden wohnen direkt am Weinheimer Marktplatz, wo sich im Sommer Touristen und Einheimische versammeln, um unter japanischen Schnurbäumen zu dinieren, ein Eis zu essen oder mit einem Glas Wein anzustoßen. Hier beginnt und endet auch der Ingrid-Noll-Weg, der seit 2021 zu bekannten und weniger bekannten Ecken der Zwei-Burgen-Stadt führt. Und hier sitzt an diesem trüben Nachmittag im Januar die Autorin höchstselbst in einem Café. Ihre zitronengelbe Handtasche hat sie über die Stuhllehne gehängt. Sie trägt einen goldbraunen Blazer mit königsblauen Ornamenten. Der Kellner begrüßt sie mit Namen.
Seit über 50 Jahren lebt die Grande Dame des deutschen Kriminalromans nun schon in Weinheim. Als sie einst mit ihrem Mann und ihren drei Kindern hierherzog, weil der Internist im hiesigen Krankenhaus eine Oberarztstelle antrat, konnte sie nicht ahnen, dass sie einmal die bekannteste Bürgerin der Stadt sein würde – und stolze Patin eines nach ihr benannten Wanderwegs. Der Ingrid-Noll-Weg führt zu 13 Stationen in der Innenstadt – zwischen Marktplatz und Mausoleum, Hermannshof und Heilkräutergarten. In Anlehnung an Nolls ersten Roman „Der Hahn ist tot“, mit dem sie 1991 zu ihrer eigenen Überraschung einen Bestseller landete, kennzeichnet ein roter Hahn die Stationen. Der Rundgang dauert etwa eine Stunde. Er ist an 365 Tagen im Jahr zugänglich und kann auch in anderer Reihenfolge angesteuert werden.
An jeder Station können die Besucher:innen einen QR-Code scannen und so der Stimme der Autorin lauschen. In kurzen Texten sinniert die „Lady of Crimeheim“, wie sie sich selbst gerne nennt, mit der ihr eigenen Mischung aus Wissen und Witz über die Stadtgeschichte, Heimat, ihr Leben und natürlich allerlei Mordmethoden. Selbstverständlich verrät sie auch, wieso sie ihre Wahlheimat so schön findet: „Hier kann man sich eigentlich nur wohlfühlen, das Klima ist perfekt, man spricht sogar von der Toskana Deutschlands. Die Altstadt ist malerisch, die Menschen sind aufgeschlossen und freundlich, es gibt einen schönen Park und einen zauberhaften Sichtgarten. Verkehrstechnisch ist Weinheim gut angebunden, Mannheim, Heidelberg, Darmstadt, Frankfurt, Stuttgart sind im Nu zu erreichen. Für Wanderer bieten der nahe Odenwald und die Pfalz die schönsten Möglichkeiten.“ Dabei war ihr erster Eindruck der Zwei-Burgen-Stadt ein ganz anderer: „Ich fand es ganz scheußlich!“, erinnert sie sich an ihren ersten Besuch. Erst, als sie die Altstadt mit ihren schmalen Gässchen und mittelalterlichen Häuschen entdeckte, gewöhnte sie sich ein.