Die Mannheimer Künstlernachlässe haben schon manches wichtige Werk vor dem Müll bewahrt – und pflegen seit 2005 mit großem Engagement das kulturgeschichtliche Gedächtnis der Stadt. 

Papier. Gestapelt, geknickt, gefaltet und geknüllt. In Form von Zeichnungen, Skizzen, Collagen und Fotografien. Überall Papier. In Norbert Nüssles Atelier in den Mannheimer Quadraten gab es unendlich viel davon. Und dort, wo er hinging, irgendwie auch. Auf dem Markt, auf dem Alten Messplatz, am Paradeplatz sammelte und collagierte er Werbung, Zeitungen und Magazine, Polaroids, Zigarettenschachteln, Servietten oder Tapetenreste und mischte sie mit dem, was er auf dem Boden fand: mit Steinen, Geröll und Sand. Dabei veränderte sich seine Heimatstadt zwischenzeitig so rasend schnell, dass Nüssle fast nicht hinterherkam. Kaum wurde der nächste frei Platz zugebaut, fing er gleich an, mittendrin zu zeichnen, zu kleben und zu dokumentieren, was um ihn herum geschah. 

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Auf seinen eindrucksvollen Materialcollagen kann man noch heute nachvollziehen, wo Norbert Nüssle (1932-2012) genau stand. Was er sah, was ihn beschäftigte und, ja, was er wohl auch fühlte. „Petites choses“, kleine Dinge, hat er auf Französisch auf eine seiner Materialboxen geschrieben. Und genau diese kleinen Dinge aus seinem riesigen Fundus an Fundstücken machten das große Ganze bei ihm aus: In der Sammlung der Künstlernachlässe, in einem ehemaligen Elektrizitätswerk auf der Rheinau, lagert mit seinem Werk ein Stück weit auch die Mannheimer Bau- und Stadtgeschichte der Nachkriegszeit. Fein säuberlich verpackt, in Kisten, Hängeregalen, Grafikschränken und Schachteln verstaut. Doch kaum hat man eine von ihnen geöffnet, wird klar: wunderbar chaotisch und unglaublich sinnlich ist diese Kunst nach wie vor. 

Silvia Köhler ist die Vorsitzende der Mannheimer Künstlernachlässe. Foto: Sebastian Weindel

Wäre so etwas wirklich eines Tages verschwunden? „Ja und nein“, sagt Silvia Köhler, die Vorsitzende der Mannheimer Künstlernachlässe – denn Nüssles Familie war der Wert seiner Werke durchaus bewusst. Aber wo sollte man diese Fülle an „kleinen Dingen“ und zum Teil raumhohen Collagen bloß unterbringen? Schon zu Lebzeiten hatte Nüssle selbst festgelegt, dass die Künstlernachlässe seine Arbeiten übernehmen würde – so entstand auch ein Werkverzeichnis. So ist es nicht immer: Am Ende eines Künstler:innenlebens steht nicht selten ein umfangreiches, manchmal aber auch unüberschaubares Werk. Und die Frage, was davon Kunst ist, was weg kann – oder unbedingt erhalten werden muss. Genau da setzt die Nachlass-Stiftung an: „Die meisten Museen sichern sich nur die Spitzenwerke eines Oeuvres, lehnen den Rest aber ab“, sagt Sophia Denk, die als künstlerische Leiterin mit Silvia Köhler und zahlreichen Ehrenamtlern die Nachlässe nicht nur verwaltet, sondern auch erfasst, dokumentiert, aufarbeitet, einordnet, publiziert und ausstellt.

In ganz Baden-Württemberg ist die Arbeit der Mannheimer Künstlernachlässe einzigartig. „Über den Bundesverband wird uns etwa einmal in der Woche ein neuer Nachlass angeboten“, sagt Denk. Nicht selten drängt dann die Zeit, weil die Nachfahren mit den Werken überfordert sind. So war es auch 2004, als Peter Schnatz überraschend starb und seine sperrigen, intensiven Malereien tatsächlich drohten, im Müll zu landen.

Wichtig ist, dass die Künstler:innen einen Bezug zu Mannheim haben.

Silvia Köhler über die Bestände der Nachlass-Stiftung

Mit Hilfe des damals stellvertretenden Kunsthallen-Direktors Jochen Kronjäger wurden sie gerettet. Sie sind heute der Grundstock der Stiftungs-Sammlung, die inzwischen 6000 Werke von 17 Künstler*innen besitzt – an die 1000 allein von Norbert Nüssle. Die meisten davon sind Grafiken und Malereien und alle erzählen sie ihre ganz eigenen (Lebens-)Geschichten. Etwa die von Ilana Shenhav (1937-1986), die das Zeichnen als Kind in Theresienstadt lernte. Oder die des experimentellen Künstlers Franz Schömbs (1909-1976), dessen Filme heute im Archiv des Deutschen Filminstituts und Filmmuseums in Frankfurt liegen, während seine Papierarbeiten und Ölmalereien der Mannheimer Stiftung gehören. Schömbs ist es auch, der wie so viele Künstler*innen mit einem besonderen Ort in Mannheim verbunden ist: der Sternwarte. 

Ein besonderer Ort für die Mannheimer Künstlernachlässe ist die Alte Sternwarte. Hier auf einem Plakat zu sehen. Foto: Sebastian Weindel
Ein besonderer Ort für die Mannheimer Künstlernachlässe ist die Alte Sternwarte. Hier auf einem Plakat zu sehen. Foto: Sebastian Weindel

Jahrzehntelang hatte das Gebäude aus der Kurfürstenzeit als Atelierhaus gedient, heute wird es von einem Aktionsbündnis betreut, zu dem auch die Künstlernachlässe gehören. Die Stiftung kümmert sich auch um den Erhalt von Walter Stallwitz’ Atelier, der Politiker wie Willy Brandt, aber auch Mannheimer Persönlichkeiten porträtierte und sich nach den Erfahrungen des Krieges Zeit seines Lebens für Zusammenhalt und gegen soziale Ungerechtigkeit engagierte. Hoch oben über den Dächern der Stadt hat sich eine unvergleichliche Zeitkapsel erhalten, die die Stiftung zugänglich macht – fast wirkt es so, als habe der 2022 verstorbene Maler den Raum nur kurz verlassen. „Uns geht es auch darum, die Zeit eines jeweiligen Künstlers verständlich zu machen und zu zeigen, was ihn beschäftigt hat“, sagt Sophia Denk, die ihre Masterarbeit über eine Künstlerin der Stiftung schrieb: Ute Petry (1927-2009). „Regionale Kunstgeschichte hat im Studium kaum eine Rolle gespielt. Mich aber reizen gerade die Recherchen mit den Originalen, diese Grundlagenarbeit“, erzählt die junge Kunsthistorikerin, Jahrgang 1997, die in vielen Gesprächen mit Freunden und Familienmitgliedern der Malerin, ihrer Lebens- und Krankheitsgeschichte, aber auch ihrem Mut, die Kunst als Beruf und Berufung zu begreifen, nachspürte.  Zwischen den Hängeregalen und Schachteln auf der Mannheimer Rheinau blickt Ute Petry auf einem Foto aus den 1950er-Jahren selbstbewusst in die Kamera. Dazwischen schauen Muscheln oder Spielzeugpanzer in Regalen heraus. Und manche Entdeckung lugt hervor: „Von Will Sohl kannten wir vor allem seine idyllischen Sylt- oder Mittelmeer-Aquarelle“, erzählt Silvia Köhler. „Erst viel später haben wir dann entdeckt, wie intensiv er auch für Kunst-am-Bau-Projekte mit dem Architekten Otto Bartning zusammengearbeitet hat.“ (Hier geht’s zu unserer Geschichte über Bartnings Notkirchen in der Metropolregion)

Ein Foto der Künstlerin Ute Petry aus den 1950er Jahren. Foto: Wind

Wenige Schritte von den eher funktionalen Depoträumen der Stiftung entfernt, hinter einer schlichten Eisentür, gibt es zwei Ausstellungsflächen mit großen Werkstattfenstern. Hier finden Veranstaltungen und Ausstellungen der Künstlernachlässe statt – auch wenn die eigentlich gern auf Wanderschaft geht: „Wir gehen bewusst an wechselnde Orte, weil wir dadurch auch immer wieder andere Menschen erreichen“, sagt Silvia Köhler, die seit vielen Jahren der Kopf (und das Herz) der Stiftung ist: Nach einer Buchhändlerinnen-Ausbildung hatte sie Germanistik, Geschichte und Soziologie in Mannheim studiert, als Technische Redakteurin in Darmstadt, dann als Beraterin und Projektmanagerin bei SAP gearbeitet – 2008 wurde die Nachlass-Stiftung dann tatsächlich so etwas wie ein Herzensprojekt, das sie seitdem ehrenamtlich und unermüdlich vorantreibt. Gemeinsam mit Sophia Denk, Susanne Kaeppele und Christine Schumann und vielen weiteren ehrenamtlichen Mitstreiter:innen. 


Warum? „Mich fasziniert, wie sehr und worauf die Künstler als Seismografen ihrer Zeit reagierten“, sagt Köhler. Viele hätten sich nach dem Krieg und Holocaust intensiv für Völkerverständigung, für Frieden, Zusammenhalt und Gleichberechtigung engagiert, aber auch die Stadtentwicklung kritisch begleitet. Peter Schnatz machte Haut zu seinem Lebensthema – die von Menschen, die der Erde. In einem Film schneidet er beherzt in die Leinwand hinein, um sie in einer nächsten Szene wieder zusammenzunähen. Edgar Schmandt blickte auf seinen Porträts tief in die Politik und Psyche seiner Zeit. Und Norbert Nüssle? Es wäre interessant zu sehen, an welchen Stellen der Mannheimer Innenstadt man ihn heute antreffen würde. Mit Schere, Papier und einer Tube Klebstoff in der Hand.

https://www.kuenstlernachlaesse-mannheim.de

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