Nach dem Zweiten Weltkrieg plante Otto Bartning ein einzigartiges Hilfsprogramm für Kirchen – von Neckarsteinach aus. Und mit einem ungewöhnlichen Konzept: Der renommierte Architekt verschickte Baupläne per Post in die Gemeinden, die ihre Gotteshäuser selbst errichteten. Nach einem einfachen Stecksystem.

„Beispielhaft authentisch“ ist neben dem Namen der Mannheimer Gnadenkirche auf der Internetseite der Otto-Bartning-Arbeitsgemeinschaft Kirchenbau zu lesen. Gleich daneben hat jemand noch ein Ausrufezeichen gesetzt. „In dieser Kirche ist fast alles noch original“, sagt denn auch Dieter Peulen mit sichtlichem Stolz, kaum hat man das schlichte Gotteshaus betreten. Und eine Entdeckung gemacht. Denn selbst an diesem kühlen Wintermorgen wirkt der Kirchenbau warm, geradezu behaglich – und das liegt nicht nur an der Heizung, die der Vorsitzende des Ältestenkreises gerade eingeschaltet hat. Ist es der würzige Holzgeruch von Satteldach und Empore? Sind es die hell gestrichenen Wände, die den Raum so freundlich wirken lassen? Oder ist es die schlichte Schönheit des einfachen Altars, der Kanzel, des Taufbeckens und der Lampen? Fest steht, dass eine der interessantesten Kirchen Mannheims auch eine der unscheinbarsten ist. 1948 war sie als „Notkirche Typ B (Variante mit angemauertem Altarraum)“, wie es fachspezifisch heißt, gebaut worden. 1949 wurde sie geweiht. Als eine von heute rund 90 Gotteshäusern im ganzen Land, die nicht nur nach Plänen eines der wichtigsten protestantischen deutschen Kirchenbaumeister des 20. Jahrhunderts entstanden. Sondern auch auf ungewöhnliche Art.

Dieter Peulen, Vorsitzender des Ältestenkreises der Mannheimer Gnadenkirche.

Denn Otto Bartnings Kirchen sollten „Zelte in der Wüste“ sein – das war angesichts der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, der so vielen heimatlos gewordenen Menschen durchaus wörtlich gemeint. Vor der NS-Zeit hatte der gebürtige Karlsruher (1883-1959) gemeinsam mit Walter Gropius nicht nur die Bauhaus-Idee (unseren Text über das einzige Bauhaus-Weingut Deutschlands in der Rhein-Neckar-Region lesen Sie hier) mitbegründet, sondern auch früh Fertigteile und Materialien des Industriebaus in seine Kirchenentwürfe integriert. Das sollte sich, kaum hatte er nach 1945 die Bauabteilung des Hilfswerks der Evangelischen Kirche übernommen, auszahlen: Bartning entwickelte drei Kirchentypen, deren Körper aus Holzelementen zusammengesteckt wurden. Von der Gemeinde selbst. Nicht nur, um Kosten zu sparen, sondern auch für ein Wir-Gefühl in den Gemeinden. „Von Notkirchen hat er selbst aber nie gesprochen“, sagt Peulen. Bartning verstand sie eher als Notzeitenkirchen, die aus einem besonderen Geist heraus entstanden – geplant und gebaut nicht nur für kurze Zeit.

Kirche

Das Holz für die Mannheimer Gnadenkirche stammte aus der Schweiz. Als Zeichen der Versöhnung spendeten zudem US-amerikanische Gemeinden Geld. „Eigentlich hätte sie daher Philadelphia-Kirche heißen sollen“, erinnert sich Dieter Peulen – mit einem solch deutlichen Verweis auf die USA mochten sich die Mannheimer aber so kurz nach dem Krieg dann doch nicht anfreunden. Die Mauern wurden aus roten Sandstein, aus Trümmern evangelischer Bauwerke der Innenstadt errichtet. So entstand der erste Mannheimer Kirchenneubau nach dem Krieg unterstützt vom Weltkirchenrat in Genf und nach Bauplänen eben von Otto Bartning, der so in allen vier Besatzungszonen Neues entstehen ließ – Kirchen aus Fertigteilen. In Serienproduktion. 

Dieter Peulen ist Jahrgang 1947, erinnern kann er sich an den Bau der Gnadenkirche also nicht. Aber an vieles andere, das mit ihrer Geschichte verbunden ist: „Ich bin nur wenige Meter von hier aufgewachsen“, sagt der Zollbeamte, der bis zu seiner Pensionierung in ganz Europa unterwegs war, aber noch heute in dem Haus lebt, das sein Vater einst baute. 1910 hatte die damals neugegründete „Gartenvorstadt-Genossenschaft Mannheim“ nach englischem Vorbild eine großzügige Siedlung für Familien angelegt, mit Gärten zur Selbstversorgung.

„Der besondere Gemeinschaftsgedanke existiert bei uns bis heute.“

Dieter Peulen ist in der Gnadenkirche getauft und konfirmiert worden, hier hat er geheiratet und seine beiden Kinder taufen lassen. Als die Gnadenkirche 1954 einen Turm, dann Glocken bekam, reiste er als Kind mit seiner Familie zur Gießerei nach Karlsruhe mit. Heute führt er den Ältestenkreis seit mehr als 40 Jahren – übernommen hatte er das Amt 1978 von seinem Vater. 

Wie bedeutend der Architekt der Gnadenkirche war, ist heute längst deutschlandweit bekannt. Immer wieder kommen Architekturinteressierte in die Gartenstadt. Zuletzt war Bartning in einer Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste, in der Städtischen Galerie in Karlsruhe oder im Darmstädter Institut Mathildenhöhe gewürdigt worden. Was allerdings selbst viele Kenner nicht wissen: Entstanden war sein beispielloses Kirchenbauprogramm in der Rhein-Neckar-Region. Um den Kriegswirren in Berlin zu entgehen, war Bartning von 1941 bis 1948 Leiter der Bauhütte für die Heiliggeist- und Peterskirche in Heidelberg geworden. Zwischen 1945 und 1951 lebte er in Neckarsteinach, wo ihn die Amerikaner sogar einige Zeit als Bürgermeister einsetzten. Am Hirtweg richtete er sich auf der Vorderburg des Freiherrn von Warsberg ein kleines Büro ein, aus dem er heraus seine Hilfsprogramme steuerte. Hier plante er seine Notkirchen – die erste übrigens in Pforzheim –, seine Gemeindezentren, „Diasporakapellen“ und „Häuser der Kirche“ für ganz Deutschland. Auch in Neckarsteinach selbst entstand ein beispielloses Projekt, eine Siedlung, in der Flüchtlinge und Vertriebene ein neues Zuhause finden sollten – errichtet wieder in Eigenregie und aus gestampftem Lehm. 

Neben der Mannheimer Gnadenkirche gibt es in der Metropolregion Rhein-Neckar noch vier weitere Bartning-Kirchen: die Lukaskirche in Worms (Notkirche Typ B) und die Diasporakapelle der Friedenskirche in Billigheim. „Substantiell erhalten“ hat die Bartning-Gemeinschaft bei der Ludwigshafener Melanchthonkirche verzeichnet – gleiches bei der Lukaskirche im pfälzischen Birkenheide. Aber viele Bartning-Kirchen sind vom Abriss bedroht, etwa in Leverkusen oder in Dachau. Ein neuer Kirchenbau mit all seinen Annehmlichkeiten? – „Für uns wäre das undenkbar“, sagt Dieter Peulen, der 2019 nicht nur die Feierlichkeiten zum 70. Jubiläum des Gotteshauses mitorganisiert, sondern auch zuletzt mit anderen Gemeindemitgliedern den Innenraum frisch gestrichen hat. „Sehr gut erhalten“ hat die Bartning-Gemeinschaft denn auch in ihrer Datenbank über die Gnadenkirche vermerkt. Längst steht sie unter Denkmalschutz. „Teilnahme am Welterbe-Antrag“ ist einige Zeilen weiter zu lesen. Denn die Berliner Bürgerinitiative will Bartnings Bauten als einzigartiges sakrales Flächendenkmal in die Liste der Unesco aufnehmen lassen. Wichtige Aufnahmekriterien der internationalen Organisation würden die Kirchen jedenfalls erfüllen. Denn gewürdigt werden von ihr „hervorragende Beispiele eines Typus von Gebäuden, die bedeutsame Abschnitte der Menschheitsgeschichte versinnbildlichen“. Eine Ampel zeigt jeweils an, welche Gemeinde das Vorhaben unterstützt und welche nicht. In Mannheim stehen die Zeichen dafür ganz klar: auf grün.


www.otto-bartning.de

https://gnadengemeinde.ekma.de

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