Joëlle Oechsle ist leidenschaftliche Ludwigshafenerin. Wo andere über eine öde Innenstadt und Billigläden schimpfen, hat sie sich mit ihrer Kamera auf die Suche nach dem Bleibendem gemacht. Sie hat Traditionsunternehmen porträtiert – und viel mehr gefunden, als erwartet.
Ein hauchdünner Streifen Metall, der von einem Bohrer hängt. Ein einzelner Holzspan. Lockenwickler, die ergrautes Haar in Form bringen. Und Hände – viele Hände. Hände die schleifen, nähen, malen und Kaffeebohnen sortieren. Die eine Tradition fortsetzen, die vor Jahrzehnten der Vater, die Großmutter oder der Urgroßvater begonnen hat. Joëlle Oechsle hat sie mit ihrer Kamera festgehalten – in stillen, langsamen Aufnahmen, auf denen jedes Detail auch von dem Respekt erzählt, den die Fotografin ihren Motiven entgegenbringt.
Oechsle hat Traditionsunternehmen in Ludwigshafen besucht und ihren Arbeitsalltag dokumentiert. „seit by side“ heißt die daraus entstandene Fotoserie – die mittlerweile sogar zwei Teile hat. Mit ihr will die gebürtige Ludwigshafenerin zeigen, dass ihre Heimatstadt weit mehr zu bieten hat als Billigläden und ein gigantisches Chemieunternehmen.
Oechsle hasst Schubladen. Sie wehrt sich dagegen, Menschen oder Dinge in bestimmte Kategorien einzusortieren. Das fängt bei ganz einfachen Dingen an. „Viele Menschen schmeißen Blumen weg, sobald sie anfangen, zu verblühen“, erzählt sie. „Aber ich finde dieser Zustand, das langsame Verblühen, hat etwas unheimlich Schönes.“ Sie sieht genauer hin. Sieht Schönes, wo andere nur Hässliches sehen, sieht, was andere gerne übersehen und schaut hin, wo andere wegsehen. Dafür ist eine Fotoserie über Obdachlose in Mannheim und Ludwigshafen nur das offensichtlichste Beispiel.
Zweirad Busch, 1897
Bäckerei-Konditorei Lanzet, 1804
Spielwaren Werst, 1919
Restaurant Maffenbeier, rund 130 Jahre alt
Joëlle Oechsle blättert im Ausstellungskatalog.
Kaffee-Rösterei Mohrbacher, 1924
Kaffee-Rösterei Mohrbacher, 1924
„Es gibt ja viele Witze über Ludwigshafen – so als hässlichste Stadt Deutschlands“, sagt Oechsle. Angegriffen fühlt sie sich als gebürtige Ludwigshafenerin dadurch nicht unbedingt. „Man muss ja zugeben, dass die Stadt optisch jetzt nicht die schönste ist.“ Sie lacht. Aber der einseitige Blick auf ihre Heimatstadt stört sie doch. „Jeder kennt die Leerstände in der Innenstadt und alle regen sich darüber auf, dass da wieder ein Geschäft schließt und dort wieder ein 99-Cent-Laden oder ein Handyshop aufmacht.“ Sie wollte den Fokus umkehren – auf das, was Bleibt. „Ich fahre oft durch die Mundenheimer Straße und da gibt es viele Geschäfte, die es schon ewig gibt, wie die Kaffeerösterei Mohrbacher oder die Kichererbse, der Bioladen.“
Sie erstellte eine Liste – „und plötzlich waren das total viele!“
Sie begann zu recherchieren, fragte Freunde, erstellte eine Liste – „und plötzlich waren das total viele!“. Oechsle war selbst verblüfft und musste ihre Kriterien verschärfen. „Ich habe schließlich nur die in meine Liste aufgenommen, die mindestens 50 Jahre alt sind – da fiel zum Beispiel die Kichererbse wieder raus.“ So versorgt die Bäckerei-Konditorei Lanzet seit 1804 Friesenheim und Umgebung mit frischem Brot, Kuchen und Pralinen. Kunden bekommen hier über 30 verschiedene Brotsorten oder den mit Mandel und Nougat gefüllten „Ludwigstaler“. Die Privatbrauerei Mayer in Oggersheim gibt seit 1846 ihrem Bier alle Zeit die es braucht, um zu reifen – ohne industrielle Beschleuniger. In der Schreinerei Oberst in Rheingönheim fertigt bereits die vierte Generation Einbaumöbel, Fenster und Türen. Und Spielwaren Werst begeistert, als deutschlandweit bekanntes Fachgeschäft für Modellfahrzeuge und -eisenbahnen, seit Jahrzehnten kleine – und große – Kinder.
Mit in der Liste ist auch der Maffenbeier, in dem Joëlle Oechsle gerade sitzt. 130 Jahre alt ist das Restaurant im Hemshof, in dem sich noch immer zur Mittagszeit der halbe Stadtteil trifft. Das ältere Ehepaar, vornehm gekleidet, ebenso wie die Gruppe Auszubildender zwei Tische weiter. Die Theke aus dunklem Holz, die Vorhänge mit Blumenmuster und Essen, das riecht wie früher bei Oma. Wie bei allen Unternehmen kam Oechsle auch hier erstmal ohne Kamera vorbei, stellte sich und ihr Projekt vor. „Alle, wirklich alle fanden das gut.“ Sie besuchte die Betriebe mehrmals für einige Stunden. „Ich brauche immer lange. Am Anfang sitze ich oft einfach nur da und beobachte.“
Oechsle ist eigentlich Grundschullehrerin, unterrichtet auf der Pfingstweide. „Aber seit ich denken kann, halte ich eine Kamera in der Hand.“ Irgendwann wollte sie nicht mehr nur im Automatikmodus fotografieren und belegte nacheinander alle Kurse, die es an der Volkshochschule zum Thema Fotografie gab. Als es keine mehr gab, meldete sie sich für ein Studium an der Online-Schule für Gestaltung an. Alles neben ihrem Beruf. Doch als Doppelbelastung würde sie ihr immer professioneller werdendes Hobby nie bezeichnen. „Im Gegenteil! Für mich ist das der perfekte Ausgleich“, erzählt sie. Ihr sei es immer schwergefallen, nach einem Arbeitstag an der Schule abzuschalten – gerade seit sie in einem sozialen Brennpunkt unterrichte. „Ich empfinde meine Arbeit an der Schule als unheimlich sinnvoll – aber sie fordert auch sehr viel. Beim Fotografieren kann ich abschalten. Dann bin ich ganz im Moment, denke nur an das, was ich fotografiere.“
Genau das sieht man ihren Bildern auch an: das Interesse an jeder Kleinigkeit im Raum. Sobald Oechsle von den Unternehmen erzählt, die sie besucht hat, werden ihre Gesten größer, ihre Mimik ausdrucksvoller. Sie erzählt, dass die älteste Kundin von Friseur Hoferer in Oppau ihre saure Dauerwelle noch genauso bekommt wie vor Jahrzehnten, warum für die Pinsel der Vergolderinnen in der Galerie Lauth Haare von Eichhörnchen verwendet werden und dass bei der Rösterei Mohrbacher die Kaffeebohnen noch immer mit der Hand sortiert werden. „Ich habe in der Zeit so viel gelernt. Diese Betriebe haben noch eine ganz andere Verbindung zu den Dingen, die sie herstellen oder zu ihren Kunden. Das hat mich sehr beeindruckt.“
Zuhause, am Computer, besucht sie ihre Motive dann ein zweites Mal. „Ich genieße auch den Prozess danach, das Sortieren, Auswählen und Bearbeiten.“ Oechsles Bilder sind schwarz-weiß – zumindest fast. Es gibt immer Details – eine Kaffeebohne, die Haut einer Person, Funken, die beim Schleifen entstehen – die sie farbig belässt, wenn auch stark reduziert. Sie will die Betrachter damit zum Innehalte bewegen, dazu, einen zweiten Blick zu wagen, näher hinzuschauen. Wie sie selbst. Dann erzählt die Fotografin noch, dass sie letztens bei ihrer Ausstellung im Ludwigshafener Kultur-Café Franz & Lissy ein Gespräch mitbekommen hat. „Ach schau“, meinte eine Frau zu ihrem Mann, „der Spielwaren-Werst. Da sollten wir wirklich mal wieder hin!“ Oechsle lächelt zufrieden.
Ursprünglich ist die Serie „seit by side“ für den Ludwigshafener Kultursommer entstanden – wie auch ihre Fotoserie über Obdachlose in Mannheim und Ludwigshafen. Zum Tag des offenen Denkmals hat sie gemeinsam mit Klangkünstlerin Karin Maria Zimmer im Bunker am Ruthenplatz die Erlebnisse von 19 Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges sicht- und hörbar gemacht. „Ich mag diese Projektarbeit, ich finde es toll, mich mit einem Thema intensiv auseinanderzusetzen.“ Nur das Thema für den nächsten Kultursommer bereitet ihr etwas Kopfzerbrechen. „Eigentlich hat alles was ich mache mit Ludwigshafen zu tun.“ Doch für das Thema „Kompass Europa: Nordlichter“ wird sie wohl doch die Stadtgrenzen verlassen müssen. „Da wird es wohl nicht reichen, wenn ich rauf in die Pfingstweide fahre.“ Auch wenn es der nördlichste Teil von Ludwigshafen ist.
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