Mit 130 Kilometern und 4000 Höhenmetern ist der Nibelungensteig einer der anspruchsvolleren Wege durch den Odenwald. Er führt zu Kapellen und Burgen, durch Blaubeerfelder, Laub- und Nadelwälder, zu einem Moor – und zu dem sagenumwobenen Ort, an dem einst der Sagenheld gestorben sein soll.

Hier soll es also geschehen sein. An dieser Quelle im Odenwald nahe Grasellenbach erstach Hagen von Tronje seinen Rivalen Siegfried von Xanten, auch bekannt als Siegfried Drachentöter. So will es zumindest das Nibelungenlied, das das Schicksal der Burgundenkönige aus Worms besingt. Und so erzählt es auch Friederike Preuß, als sie nach einem kurzen Anstieg durch den nassen Frühlingswald hier ankommt. Trotz der blutrünstigen Geschichte wirkt der Ort friedlich: Es riecht nach nassen Fichtennadeln und Moos. Der Regen vom Vortag hängt als Dunst zwischen den Bäumen. Und aus der Quelle plätschern leise die Wassertropfen. „Ich bin sehr, sehr gerne hier“, sagt die kleine Frau mit dem freundlichen Gesicht und der runden Brille.

„Der“ Siegfriedbrunnen? Zumindest einer der angeblichen…

Und sie ist es oft, denn der Platz liegt auf einem „ihrer“ Wege: Seit fast 25 Jahren ist Preuß Wegewartin beim Odenwaldklub (OWK) – und im Rahmen dieses Ehrenamtes auch für einen Teil des Nibelungensteigs verantwortlich. Seit 2008 führt der Qualitätswanderweg auf naturnahen Pfaden durch den Odenwald – anfangs auf rund 40 Kilometern von Zwingenberg an der hessischen Bergstraße bis zum Siegfriedbrunnen bei Grasellenbach. 2010 kamen 90 Kilometer dazu: Nun endet der Weg in Freudenberg am Main – in sieben Etappen und über 4000 Höhenmeter lässt sich der Odenwald auf ihm durchwandern.

Ausrüstung einer Wegewartin: Farbe und Schablonen.

Preuß kennt sie alle, auch wenn sie den Weg noch nie am Stück gelaufen ist. Besonders gern mag die Wegewartin selbstverständlich „ihren“ Abschnitt: Er führt vom Fürther Ortsteil Weschnitz bis zum Olfener Bild – einem Bildstock nahe des Oberzenter Ortsteils Olfen. Wie auch auf dem restlichen Weg kennzeichnet ein blutrotes N auf weißem Grund hier den Verlauf des Weges – zumindest wenn Preuß ihren Job gut gemacht hat: Einmal im Jahr kontrolliert sie, ob die Markierungen gut zu erkennen sind und bessert bei Bedarf nach – wenn ein Symbol verblasst ist, die Rinde abblättert oder ein Baum mit einer Markierung gefällt wurde.

An einem so feuchten Tag wie heute würde sie sich normalerweise gar nicht erst auf den Weg machen: Damit die Farbe an den Bäumen haftet, sollte es schon am Tag vor dem Markieren trocken sein, erklärt Preuß, während sie mit Simone Paepke von Grasellenbach in Richtung Siegfriedbrunnen stapft. Paepke leitet die Tourist-Information NibelungenLand des Landkreises Bergstraße sowie die Tourismusagentur, die den Nibelungensteig vermarktet. Ihre Jacke hat die Wegewartin längst ausgezogen und in ihrem Rucksack verstaut. Auf halbem Weg bleibt sie plötzlich stehen. „Das geht so net“, sagt sie, den Blick auf das rote Nibelungen-N gerichtet, das auf dem Stamm einer Kiefer prangt. Die Rinde ist abgeplatzt, der weiße Grund, den die Wegewarte Spiegel nennen, nicht mehr ganz intakt.

Ich bin eigentlich jede Woche im Wald

Friederike Preuß

Preuß greift in das blaue Plastikkörbchen, das sie mit sich trägt, holt ein Einmachglas mit weißer Farbe und einen Pinsel heraus. „Der Lieblingsbaum der Wegewarte ist die Buche“, sagt sie und bessert nach. „Schön glatt. Da muss man nur alle zwei bis drei Jahre ran.“ Auf der spröden Rinde der Kiefer halte die Farbe dagegen nicht einmal ein Jahr. Bringt sie auf einer Kiefer oder Douglasie ein neues Zeichen an, schabt sie daher zuerst mit einem Dreikant die Rinde ab. Buchen bearbeitet sie dagegen nur mit der Drahtbürste: „Wir wollen den Baum ja nicht verletzen.“ Für über 100 Kilometer Wanderwege ist Preuß verantwortlich. Etwa drei Wochen braucht sie jedes Frühjahr, um alle abzugehen und die Markierungen zu kontrollieren.

Friederike Preuß und Simone Paepke, Leiterin der Tourist-Information NibelungenLand, auf dem Weg zum sagenumwobenen Siegfriedbrunnen.

Und diese Zeit investiert Preuß gern: Sie liebt ihr Ehrenamt und das Gefühl, etwas für die Gemeinschaft zu leisten. Insgesamt verlaufen durch die neun Wegebezirke, in die der OWK das Gebiet zwischen Frankfurt und Kraichgau aufgeteilt hat, rund 6000 Kilometer Wanderwege, um die sich etwa 200 Wegewarte kümmern – die meisten sind für 20 bis 50 Kilometer verantwortlich. Ihre Arbeit ist nicht nur ein praktischer Service für alle Wandersleute, sondern auch ein Beitrag zum Naturschutz: „Die Hoffnung ist natürlich, dass die Leute auf den Wegen bleiben – und die Natur so weniger gestört wird“, erklärt Preuß. Das Wegenetz im Odenwald gibt es schon seit Ende des 19. Jahrhunderts: Rote und blaue Zeichen führen in der Regel von Nord nach Süd, grüne und gelbe von West nach Ost.

Verwunschen und sagenhaft ist der Odenwald hier durchaus.

In Bezirk 4, in dem die Routen von Friederike Preuß liegen, sind insgesamt 40 Wegewarte unterwegs, um 1200 Kilometer zu markieren. „Es dürften ruhig noch ein paar mehr sein“, sagt Preuß, die als Bezirkswegewartin auch die Neuen einlernt. Sie selbst kam über ihre Eltern zur ihrem Ehrenamt. Sie kümmerten sich um die Routen rund um Heppenheim, wo Preuß noch heute wohnt. Mit 29 Jahren übernahm sie ihre eigenen Wege im Überwald. Hier gefällt es Preuß so gut, dass sie fast hergezogen wäre. Aber jeden Tag aus dem Odenwald nach Feudenheim zu pendeln, wo sie als Buchhändlerin arbeitet, das war ihr dann doch zu weit.

Gut sichtbar müssen die Zeichen sein, die den Weg weisen.

Erneut bleibt Preuß stehen. Ein junger Buchenast ist vor ein Zeichen gewachsen. Die Wegewartin zückt die Astschere und versucht, ihn möglichst weit oben zu kappen. Mit ihren 1,58 Meter ist das gar nicht so leicht – Preuß ist froh, dass ihr Freund sie oft auf ihren Touren begleitet. Er überragt sie nicht nur um gute 20 Zentimeter, sondern teilt auch ihre Leidenschaft fürs Wandern. Beide sind in der Ortsgruppe des OWK in Heppenheim aktiv. Als zertifizierte Wanderführerin und Gesundheitswanderführerin bietet Preuß dort regelmäßig Touren an. „Ich bin eigentlich jede Woche im Wald“, sagt sie. Auch ihren Urlaub verbringt sie gerne wandernd: Dieses Jahr zum Beispiel im Hunsrück, im Schwarzwald und in der Sächsischen Schweiz.

Preuß hat die Schere wieder eingepackt und setzt ihren Weg auf dem schmalen Waldpfad fort. Wäre das Wetter besser, würde sie jetzt, auf dem Hinweg, die weiße Farbe auftragen, auf dem Rückweg dann das rote N. Etwa alle 350 Meter sollten Wanderer auf ein Zeichen stoßen. „Wenn ich fünf bis zehn Minuten gelaufen bin, ohne eins zu sehen, sollte ich umdrehen“, erklärt die Wegewartin. Für Kreuzungen gilt eine noch engere Taktung: „Vor der Kreuzung das Zeichen mit Pfeil, hinter der Kreuzung die Bestätigung, dass man in den richtigen Weg eingebogen ist.“

Wenn es geht, malt Preuß das rote N auf weißem Grund als oberstes Zeichen auf den Baum – denn der Nibelungensteig ist ein Qualitätswanderweg. Als solcher muss er etliche Kriterien erfüllen, darf zum Beispiel nur über einen bestimmten Anteil asphaltierter Wege führen. Schutzhütten, Rastplätze, Aussichtspunkte, naturnahe Gewässer, Gaststätten, Parkplätze und ein Anschluss an den ÖPNV geben Pluspunkte, erklärt Preuß. Sie ist nämlich nicht nur Wegewartin, sondern auch Bestandserfasserin und überprüft regelmäßig, ob die Qualitätswanderwege in der Region noch den Vorschriften genügen. „Das hier wäre zum Beispiel ein Grenzfall“, sagt sie mit einem Blick auf den von Schotter bedeckten Boden. Ob er vom Regen angespült oder aufgebracht wurde, bleibt unklar.

Der Nibelungensteig bietet abwechslungsreiche Flora – und Fauna.

Am Nibelungensteig schätzt Preuß die Abwechslung: „Man lernt sehr viele verschiedene Landschaften kennen“, sagt sie. Der Weg führt von der lieblichen Landschaft des Vorderen Odenwalds durch die Nadelwälder und Blaubeerfelder des Hinteren Odenwalds bis ins Maintal. Neben dem Siegfriedbrunnen mag Preuß das Rote Wasser von Olfen – ein Hochmoor – besonders gerne, außerdem die Walburgiskapelle, die man über enge Serpentinen erklimmt, und das wild-romantische Gassbachtal, das man – je nach Laufrichtung – kurz vor oder nach dem Siegfriedbrunnen erreicht. Wer alle sieben Etappen am Stück wandern will, sollte schon vorher einen Platz in einer Pension oder auf einem Campingplatz reservieren, denn in vielen Orten sind die Übernachtungsmöglichkeiten rar.

Grasellenbach ist da eine Ausnahme: Hier tragen gleich mehrere Gästehäuser die Helden des Nibelungenlieds im Namen. Obwohl es mehr als umstritten ist, ob es sich bei der Quelle im nahen Wald wirklich um den „echten“ Siegfriedbrunnen handelt. „Eigentlich ist er sogar einer der unwahrscheinlichsten“, erklärt Preuß – zu weit ist es bis nach Worms. Dort sitzen im Lied die Burgundenkönige und dorthin wird auch Siegfrieds Leichnam gebracht, und zwar in nur einer Nacht. Viel wahrscheinlicher ist daher, dass der Siegfriedbrunnen in Heppenheim dem Verfasser des Liedes als Vorbild für den Schauplatz des Mordes diente. „Den kennt aber fast niemand“, sagt Preuß – und außerdem liegt er auch nicht so schön im Wald.


www.nibelungensteig.de

Wer beim Markieren der Wege helfen will, kann sich an die Geschäftsstelle des OWK wenden: info@odenwaldklub.de

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