Melanie Weigl hat auf ihrer Alpakafarm am Heidelberger Pferchelhang einen Ort geschaffen, an dem Menschen sich beschützt und geborgen fühlen. Verbunden – mit einer Herde besonderer Tiere.
„Guten Morgen, Jungs“, ruft Melanie Weigl. Lächelnd stapft sie über die flach abfallende Streuobstwiese am Heidelberger Pferchelhang. Dahinter ragt der Königsstuhl auf. Gleißendes Licht bricht durch die Kronen der Apfelbäume des Hangs. Weigl wird schneller. Es riecht nach feuchter Erde und nach Heu. Ein Traben, ein leises „Mmmh“, das sich wie ein Summen anhört. Weigls „Jungs“ kommen. Zehn Alpakas, die auf der Alpakafarm Hirtenaue leben. Peppino, Maylon und Terenz, Sam, Black Diamond, Gargamel, Majesty, Claudius und die beiden jüngsten De Angelo und Timirus. Weigl verschwindet in einem flauschigen Knäuel aus Erdtönen. Sie krault und streichelt, badet im Summen der Tiere, die so viel für sie verändert haben. Eigentlich alles.
Weigl wächst bei ihrer Großmutter auf einem Bauernhof in der Lüneburger Heide auf. Inmitten von Hühnern, Hunden und Katzen. Die Tiere sind Teil ihrer Lebenswelt – sie sind ihr Leben. Bis sie zum Studium nach Heidelberg zieht. Weigl denkt über ein Medizinstudium nach oder über Psychologie im Hauptfach, entscheidet sich dann aber für Musik. „Im Nachhinein habe ich gemerkt, dass es nicht das war, was ich wollte“, sagt die 37-Jährige heute. Sie macht einige Schritte vorwärts, die dumpf widerhallen. Die Alpakas folgen ihr durch einen schmalen Spalt in den vorderen Teil der Farm. Dort befinden sich der Stall, eine Sitzecke und ein Bauwagen mit Weigls kleinem Alpaka-Shop.
Weigl schüttelt den Inhalt eines Säckchens auf ihrer Handfläche aus. Eine Kräutermischung. Peppinos Schnauze bohrt sich in ihre Handinnenfläche. Er ist das ranghöchste Tier der Herde. Ihn nicht zuerst zu versorgen, wäre ein echter Affront, sagt Weigl und lacht. Sie weiß viel über die Tiere, die zu ihrer Herde zusammengewachsen sind. Über das Wesen jedes einzelnen Alpakas und darüber, wie die Tiere zusammenleben. Über ihre Spielregeln und ihre Befindlichkeiten. Ihre Empfindungen und ihre Einfühlsamkeit.
Eine idyllische Streuobstwiese am Heidelberger Pferchelhang.
Hier leben die Alpakas von Melanie Weigl...
...und auch einige andere Tiere.
Als sie darüber las, wie Alpakas in der Therapie eingesetzt werden, steht ihr Entschluss fest.
Seitdem arbeitet sie mit den sanften Tieren.
Obwohl es sich nie ganz richtig anfühlt, schließt Weigl ihr Studium ab. Sie zieht nach Bayern, arbeitet als Kirchenmusikerin. Doch der Job füllt sie nicht aus. Wenn sie nicht arbeitet, spinnt Weigl. Wie es ihr ihre Oma gezeigt hat, am Spinnrad. Oft zerfasert sie dazu Alpaka-Wolle, ohne mehr über die Tiere zu wissen. Oder darüber, wie wichtig sie schon bald in ihrem Leben sein werden.
Die meisten, die hier waren, kommen wieder und wieder
Melanie Weigl
Weigl kündigt und nähert sich ihrem alten Studientraum wieder an: ihrem Wunsch, Menschen zu helfen. Sie kehrt zurück nach Heidelberg, obwohl sie sich kein Zweitstudium leisten kann. Sie macht eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin, hospitiert in psychiatrischen Kliniken. Und sie liest etwas über die Tiere, deren Wolle zu Hause über ihr Spinnrad zurrt. Darüber, wie sie in der therapeutischen Behandlung von Menschen eingesetzt werden. „Das war der Schlüsselmoment“, sagt Weigl fünf Jahre später. Ihr Blick wandert zum kleinen Bauwagen, in dem sie Alpaka-Wolle anbietet, Strümpfe, Kleidung, hochwertige Souvenirs. In einer der beiden hinteren Ecken steht ihr Spinnrad.
2018 startet Weigl eine Crowdfunding-Aktion für ihre eigene Alpakafarm, zwei weitere folgen. Weigl möchte mit den Tieren arbeiten, die eine beruhigende Wirkung auf Menschen haben. Monatelang sucht sie in Heidelberg nach einem passenden Grundstück, einem Hanggrundstück, wie es die Alpakas mögen. Mit saftigen Wiesen, da sie sich vor allem von Gras ernähren. Die Chancen stehen schlecht. Immer wieder hört sie den Satz, im Stadtgebiet sei kein einziger Quadratmeter mehr zu holen. Weigls Suche läuft ins Leere, bis sie einen Post auf Facebook absetzt. Eine Dame bietet ihr ein Grundstück auf dem Pferchelhang an, andere Eigentümer ziehen nach. Kleinere Areale fügen sich zu einem Gelände zusammen, das einen Hektar Land umfasst. Land, auf dem die Alpakafarm Hirtenaue entsteht.
2019, am Pfingstmontag, bietet Weigl die erste Alpaka-Wanderung an. Viele weitere folgen. Heute ist sie meist an fünf Tagen in der Woche mit ihren Tieren und den Besuchern unterwegs. Meistens traben sie einmal am Tag durch den umliegenden Wald, nie aber öfter als zwei Mal täglich. „Für mich ist es das Wichtigste, dass es meinen Alpakas gut geht“, sagt Weigl. Deshalb gibt es nicht jeden Tag Wanderungen und immer ausreichend Pausen. Sie verleiht ihre Tiere nicht für Hochzeitsshootings oder Events. Es gibt nur das Leben auf der Farm. Ein artgerechtes Leben.
Ein Seidenhuhn piekt gegen Weigels Schuh. Eins von fünf ausgewachsenen „Flauschis“, die über die Farm huschen, während zehn ihrer Küken in einer Voliere – zum Schutz vor Greifvögeln – leben. Die Farm ist ein ruhiger, ein sanfter Ort. Ein Platz, an dem sich viele Menschen beschützt und geborgen fühlen. „Die meisten, die hier waren, kommen wieder und wieder“, sagt Weigl. Die Ruhe der Alpakas überträgt sich auf die Menschen. Vor allem auch ihre ehrliche Verbundenheit. Die beiden jüngsten Tiere kauern mit der Herde im vorderen Bereich der Farm. Eng schmiegt sich ein Alpaka an das andere. Ein Brummen. Die Tiere kommunizieren und rücken enger zusammen. Die Farm hat auch die Menschen in der Nachbarschaft verändert. Immer wieder zieht es sie auf die Farm, vor allem die Kinder. „An Heiligabend treffen wir uns alle vormittags hier, das ist ein schöner Termin“, sagt Weigl, ein Seidenhuhn springt auf ihren Schoß. Wieder und wieder fährt sie dem Tier mit der Hand über den Rücken.
Die Wartelisten für Weigls Wanderungen sind lang. Sie bietet deshalb auch stundenweise Besuche auf der Farm an. 60 Minuten, in denen sich die Menschen auf dem Areal aufhalten können – und schauen, was passiert. Das Programm bestimmen die Alpakas, den gesamten Ablauf. Die Nähe oder die Distanz, die sich aus Neugier oder Skepsis der Tiere speisen. Und: Kindergeburtstage. „Meistens bekomme ich die Rückmeldung, dass die Eltern noch nie zuvor einen solch entspannten Kindergeburtstag gefeiert haben.“
Ab dem Sommer möchten Weigl und ihre beiden Teilzeitkräfte besondere Wanderungen mit ihren Alpakas organisieren. „In der Pandemie waren viele Menschen sehr einsam“, sagt sie. Ihre Hand ruht auf dem Gefieder des Seidenhuhns, den Blick in die Ferne gerichtet. Im Juni und Juli sollen ihre Speed-Dating-Wanderungen starten. „Zwei Menschen führen gemeinsam ein Alpaka – und vielleicht hilft ihnen dieser zwanglose, geschützte Rahmen, sich zu öffnen.“
Anderen Menschen zu helfen – das war der Ursprungsgedanke ihres Projekts. Einer, der Weigl besonders wichtig ist. Und einer, auf den sie stolz ist. Immer wieder erhält sie Anfragen von Menschen, die unter Depressionen leiden, unter Angst- oder Zwangsstörungen. Von Autisten oder Menschen mit chronischen Schmerzen. Im Idealfall arbeitet Weigl mit den Ärzten und Therapeuten zusammen. Dann bringt sie die Patienten zu den Alpakas. Diesem flauschigen Knäuel aus Erdtönen, das eine große Veränderungskraft besitzt.
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