Im Frühling ziehen in der ganzen Kurpfalz Kinder mit bunten Stecken durch die Straßen, um dem Winter den Garaus zu machen. Den Sommertagszug gibt es so nirgendwo sonst in Deutschland. Was hat es mit der Tradition auf sich? Der Historiker und ehemalige Buchhändler Ludwig Schmidt-Herb hat jahrelang den Rohrbacher Sommertagszug mitorganisiert. Und über die Jahre einen ganzen Ordner voller Wissen über den Brauch gesammelt.

Herr Schmidt-Herb, wann haben Sie Ihren ersten Sommertagszug erlebt? 
Ludwig Schmidt-Herb: Ich bin 1945 in Lambsheim in der Pfalz geboren. Aufgewachsen bin ich allerdings im Allgäu. In den Ferien habe ich immer meine Oma in der Pfalz besucht – und dort habe ich Stabaus miterlebt, wie das Fest dort heißt. Meine Großmutter hat dann mit uns Stabausstecken gebastelt. Das war gar nicht so einfach!

Die bunten Sommertagsstecken gehören fest zum Sommertagszug dazu. Wie sehen sie aus?
Ludwig Schmidt-Herb: Für den echten, authentischen Sommertags- und Stabausstecken braucht man den einjährigen Trieb eines Haselstrauchs. Oben drauf stecken eine Brezel und ein Ei, das ein kleiner Blumenstrauß. Ganz wichtig: Die Brezel muss „nach unne gugge“, also auf dem Kopf stehen. Um den Stock werden Girlanden aus bunten Papierstreifen gewickelt.

Welche Bedeutung haben die Stecken?
Ludwig Schmidt-Herb: Sie stehen für das Ausschlagen der Natur. Die bunten Bänder und der Buchs zeigen der Welt, dass der Frühling und das Leben nun wiederkommen. Was die Brezel und das Ei symbolisieren, dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Für mich ist aber keine wirklich schlüssig. Das Ei hat vermutlich etwas mit dem neuen Leben zu tun. Über die Brezel hat ein Forscher einmal gesagt, sie sei das einzige Gebäck, durch das die Sonne dreimal scheint (lacht).

Den Winter verbrennen: Heidelberger Sommertagszug. Foto: Tobias Schwerdt, Heidelberg Marketing GmbH

Was gehört außer den Stecken noch zum Sommertag?
Ludwig Schmidt-Herb: Die beiden Butzen, die für den Sommer und den Winter stehen. Früher waren das verkleidete Burschen, die mancherorts miteinander kämpften. Wobei der Sommer natürlich immer gewinnt. Heute sind es Gestelle, die geschmückt werden. Der Winterbutzen besteht aus Stroh und wird mit Symbolen behängt, die den Winter ausmachen: Schlittschuhe und Handschuhe zum Beispiel. Der andere wird mit grünen Tannenzweigen geschmückt, mit Papierblüten oder bunt bemalten Eiern. In vielen Orten wird am Ende des Zugs heute außerdem ein Schneemann verbrannt.

Beim Sommertag wird also zum einen der Winter vertrieben. Was steckt noch hinter dem Brauch?
Ludwig Schmidt-Herb: Im Sommertag finden sich auch alte Heischebräuche wieder. Beim Heischen gehen die Kinder von Haus zu Haus und bitten um Gaben. Anfangs waren das Lebensmittel wie Eier und Speck, später auch Geld. Vielleicht kommt das Ei auf dem Stecken auch aus dieser Tradition. Wenn das Heischen nicht erfolgreich war, hagelte es eine Beschimpfung. Davon erzählen manche Versionen des Sommertagslieds. Dort heißt es: „Oh du alter Stockfisch, wann mer komme un du hosch nix als e trocke Stick Kuche, de Deiwel soll dich suche.“ In Rohrbach bekommen übrigens noch heute alle Kinder, die beim Umzug einen Sommertagsstecken haben, vom Stadtteilverein eine Brezel.

Das Lied „Strih-strah-stroh“ darf beim Sommertagszug ebenso wenig fehlen wie die Stecken. Wo kommt es her?
Ludwig Schmidt-Herb: Sein Ursprung ist nicht eindeutig festzumachen. Es lässt sich aber bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen und hat es in fast alle Liederbücher in ganz Deutschland geschafft – auch dank Carl Maria von Weber. Der Komponist des „Freischütz“ hielt sich 1810 in Heidelberg auf. Und zwar nachweislich am Tag des Sommertagszugs. Wahrscheinlich hat er sich damals das Sommertagslied notiert. Etwa zehn Jahre später, als er Kapellmeister an der Dresdner Oper war, hat er für eine Hofsängerin Frühlingslieder gedichtet. Eines davon hieß: „Tra-ri-ra, der Sommer der ist da“.

Das Lied und der Brauch stammen aber aus der Kurpfalz – oder gibt es diese Tradition auch anderswo?
Ludwig Schmidt-Herb: Nein, der Sommertag ist wirklich ur-kurpfälzisch. Die Tradition des Winteraustreibens gibt es natürlich an vielen Orten. Im Allgäu, wo ich aufgewachsen bin, feiert man zum Beispiel den Funkensonntag. Dann werden auf der Berghöhe riesige Feuer angezündet. Im Odenwald gibt es mit den Lärmfeuern einen ähnlichen Brauch. Auch die Fastnacht gehört zu diesem Traditionsgebiet. Aber den Sommertagszug gibt es so nur bei uns. Er variiert von Ort zu Ort und ist wie eine Art Dialekt: Wer sich auskennt, kann anhand der einzelnen Traditionen ein Dorf vom anderen unterscheiden. Aber die Grundelemente sind immer gleich. Der Sommertagszug ist wie ein Erkennungsmerkmal für die Kurpfälzer.

Seit wann ist der Brauch belegt?
Ludwig Schmidt-Herb: Eines der frühesten Zeugnisse sind die Briefe der Lieselotte von der Pfalz. Sie wurde jung nach Frankreich verheiratet und erinnert sich in ihren Briefen wehmütig daran, wie sie als Kind in Heidelberg „Strih-strah-stroh“ gesungen und den Sommertag gefeiert hat. Das war um das Jahr 1660. Noch älter sind einige Gemeindeverordnungen. Da heißt es dann zum Beispiel, dass die jungen Burschen beim Sommertagszug wieder einmal über die Stränge geschlagen haben.

Zu sehen, wie alles nun grün ist und das Wetter warm, kann man singen wie die Buben auf dem Berg zu Heidelberg früh: Stru, stru, stroh, der Sommer der ist do.

Liselotte von der Pfalz in einem Brief vom 17. April 1707

Welche Bedeutung hat der Sommertag aus Ihrer Sicht heute? Ist er nur ein Fest unter vielen oder doch etwas Besonderes?
Ludwig Schmidt-Herb: Der Sommertagszug ist für mich einer der wenigen erhaltenen Belege dafür, wie sehr wir Menschen in die jahreszeitlichen Abläufe eingebunden sind – und wie wichtig es den Menschen früher war, diese Abläufe kultisch zu feiern. Er gibt die Gewissheit, dass der Winter vergeht und dass der Sommer kommt. Als es noch kein elektrisches Licht gab und die Menschen die Welt noch nicht medial, sondern unmittelbar erlebten, hatte diese Gewissheit eine enorme Bedeutung. Endlich konnte man den Winter verabschieden. Es wurde früher hell, die Natur trieb aus, es wurde wärmer und man konnte wieder auf den Acker. Feste wie der Sommertag gaben den Menschen einen Rahmen für ihr Leben.

Der Sommertagszug in Heidelberg mit dem grimmigen Winter. Foto: Sabine Arndt, Heidelberg Marketing GmbH

Können Sie sich vorstellen, dass der Sommertag eines Tages verschwindet?
Ludwig Schmidt-Herb: Das glaube ich nicht. Aber er wird sich bestimmt verändern. Das hat er aber immer schon getan. In Rohrbach feiern wir den Sommertagszug zum Beispiel nicht mehr am Sonntag Lätare, also dem Sonntag drei Wochen vor Ostern, so wie es traditionell sein müsste. Das hat den schlichten Grund, dass die Polizei nicht gleichzeitig unseren Zug und den in anderen Stadtteilen begleiten kann. Wir haben den Sommertag deshalb auf den Sonntag vor dem Palmsonntag gelegt. Da findet auch der Rohrbacher Ostermarkt statt. Vielleicht kommt irgendwann noch ein Karussell dazu und dann haben wir einen Osterrummel, wer weiß? So entwickelt sich der Brauch eben weiter – und so hat er sich schon seit Jahrhunderten entwickelt. Es gibt die alten Brauchtumsregeln. Und es gibt äußere Notwendigkeiten, die diese Regeln verschieben.

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