In der Mannheimer Neckarstadt existiert eine der letzten handwerklichen Buchbindereien der Rhein-Neckar-Region. In vierter Generation betreibt Annette Schrimpf hier ihre Werkstatt. Über die Liebe zu einem aussterbenden Beruf – und ein ganz besonderes Haus.
Behutsam setzt Annette Schrimpf die Nadel an. Sie sticht durch das Papier und zieht den Faden nach. Ihre Handgriffe sind sicher und flüssig. Schnell, aber nie hektisch. Handgriffe, die sie seit Jahrzehnten macht. Die sie von ihrem Vater Rudolf gelernt hat. Und dieser von seinem Vater und Großvater.
Annette Schrimpf nimmt die nächste Doppelseite und heftet auch diese fest. Immer über Kreuz, die sogenannte französische Kreuzheftung – etwas für Liebhaber. Sie wird die Seiten später nur noch ableimen. Die schwarzen Fäden und das Kreuzmuster, das sie bilden, bleiben sichtbar. Sichtbare Handarbeit, die nun in vierter Generation in ihrer Familie weitergegeben wird. Seit über 100 Jahren gibt es die Werkstatt in der Mannheimer Neckarstadt. Friedrich Schrimpf, Annettes Urgroßvater, war es, der die Buchbinderei eröffnete. Ein paar Häuser weiter damals, in der Waldhofstraße 14. 1913 schon, nicht 1915, wie die Familie lange dachte.
Sie zeigt alte Bilder. Von der früheren Werkstatt, in der sich mehrere Generationen gleichzeitig tummeln. Auch ihr Vater ist darauf zu sehen. Mit einem Schulfreund, der ihn gerne in der Werkstatt besuchte. Alle packten mit an, die Oma, die Tante und Großtante. Noch heute erinnert sie sich gern an den Großvater, wie er an genau den Geräten arbeitete, die noch heute in ihrem Laden stehen. „Ihm haben wir damals immer die Pausenbrote geklaut.“ Er verstand den Spaß. „Mein Opa war klasse, ein sehr humorvoller Mann.“
Annette Schrimpf führt die Buchbinderei in vierter Generation.
Schaufenster der Buchbinderei Schrimpf in Mannheim.
...war Buchbinder noch ein weit verbreiteter Beruf.
Von Generation zu Generation wurde das Handwerk in der Familie weitergegeben.
Annette Schrimpf gestaltete den Laden neu.
Aber die Vergangenheit nimmt auch heute einen wichtigen Platz ein.
Annette Schrimpf liebt es, mit den Händen zu arbeiten...
...und mit Papier.
Dass der Familienbetrieb auch die Kriegsjahre überlebte, hatte mit ihrer Großtante Emilie zu tun, die immer daran glaubte, dass ihr Bruder aus dem Krieg zurückkehren würde. „Dabei galt er lange als vermisst.“ Um die Werkstatt zu erhalten, vermietete sie die Räume unter und sorgte dafür, dass alles beim Alten blieb, bis Friedrich Schrimpf (jr.) tatsächlich das Geschäft wieder öffnete. Bis in die 1960er Jahre gehörte dazu auch ein Schreibwarenladen. „Viele Jahre kamen hier noch Menschen vorbei, die mir erzählten, wie sie damals bei meiner Großtante ihre Schulhefte gekauft haben“, erzählt die Buchbinderin. „Jeder im Viertel kannte sie.“
Ehrlich gesagt fällt mir nichts ein, das ich lieber machen will
Annette Schrimpf
Annette Schrimpf wuchs in der Buchbinderei auf, wurde mit dem Handwerk groß. „Für mich war das nie eine Frage. Es war immer klar, dass ich den Betrieb irgendwann übernehmen werde.“ Hat es nie einen anderen Berufswunsch gegeben? Sie überlegt. „Ehrlich gesagt fällt mir nichts ein, das ich lieber machen will.“ Sie liebt das Arbeiten mit Papier. Und gibt ihr Wissen gerne weiter – in Seminaren im Fachbereich Gestaltung an der Hochschule Darmstadt oder in Workshops in ihrer Werkstatt. „Da kommen oft Menschen, die sonst den ganzen Tag am Computer sitzen und einen Ausgleich suchen. Oder Handwerker, die ihren früheren Beruf aufgegeben haben, aber die Arbeit mit den Händen vermissen.“ Viele kommen immer wieder. „Das man danach etwas in den Händen hält, das man selbst gemacht hat – das ist eben doch ein anderes Gefühl, als jeden Tag nur Dateien von A nach B zu schieben.“ Sie selbst nimmt auch immer wieder etwas aus den Workshops mit. „Laien gehen natürlich ganz anders an die Sache ran. Nach so vielen Jahren im Beruf tut so ein neuer Blickwinkel immer gut.“
Die Lehrtätigkeit und die Workshops sind für sie mittlerweile wichtige Standbeine. „Alleine mit Buchreparaturen und Sonderanfertigungen könnte ich mich schon lange nicht mehr über Wasser halten.“ Als sie 2001 die Buchbinderei übernahm, krempelte sie auch den Betrieb um. Das Lager zog in den hinteren Raum, die Werkstatt nach vorne, sie belebte das Ladengeschäft wieder und baute ein Papeterie-Sortiment auf. „Vorher war die Buchbinderei fast unsichtbar, die Kunden mussten immer durch den Hof.“ Heute stehen sie gleich mittendrin, auf einem knarzenden Dielenboden. Zwischen Papier und Büchern in allen Formen und Farben, alten Geräten und historischen Fotografien.
Es sind vor allem Stammkunden, die in ihren Laden kommen. Die Märchenbücher, alte Bibeln oder das Rezeptbuch der Oma bringen, oft halb zerfleddert. Sie setzt sie dann wieder instand. Manchmal muss sie die Bücher dafür komplett auseinandernehmen und behutsam neu zusammensetzen. „Ich mache immer so wenig wie möglich, aber so viel wie nötig.“ Die Buchbinderin achtet darauf, den Charakter der alten Schätze zu erhalten. Dabei hilft es sehr, in einem traditionsreichen Betrieb zu arbeiten. „Viele der Papiere und Materialien, die ich noch im Lager habe, gibt es heute gar nicht mehr zu kaufen.“ Auch Sonderanfertigungen macht sie – wie etwa das Goldene Buch der Stadt Mannheim.
Annette Schrimpf ist sehr verbunden mit der Stadt und ihrem Viertel. Vielfältig und lebendig ist die Neckarstadt, mit dem Capitol und der Alten Feuerwache liegen gleich zwei Kulturzentren ganz in der Nähe der Buchbinderei, viele Cafés gibt es hier und am Neckar bringen das Einraumhaus für junge Kunst und das Freizeitprojekt Alter Menschen aus allen Schichten und Kulturen zusammen. Ganz besonders ist Annette Schrimpf jedoch mit dem Haus in der Waldhofstraße 8 verbunden. Ein Haus aus der Gründerzeit, mit Erkern und Ornamenten. Hier ist ihr Laden, hier wohnen ihre Eltern, ihre Tante – und auch sie bald wieder. Im Lebenszentrum ihrer Familie. Das 2019 auf dem Spiel stand. Das Haus sollte verkauft werden. An Investoren womöglich, die bei den steigenden Hauspreisen gleich mal sanieren und die Miete ordentlich erhöhen, befürchteten die Bewohner:innen. Das hätte sich der kleine Handwerksbetrieb nicht leisten können. Ausziehen kam für Annette Schrimpf nicht in Frage. „Viele meiner Geräte sind so alt, dass ich sie woanders gar nicht mehr aufstellen dürfte.“
Also kämpfte sie. Um ihr Haus, um ihren Laden und darum, dass alle Bewohner:innen bleiben können. Schließlich fanden sie eine Stiftung, die den Kauf des Bodens übernahm. Die Hausgemeinschaft gründete einen Verein, später eine GmbH und trieb über Kleinkredite, Hausflohmärkte und Spenden schließlich so viel Geld ein, dass sie das Haus kaufen konnten. „Das war eine sehr anstrengende Zeit“, sagt Annette Schrimpf rückblickend. In ihrer Buchbinderei blieb vieles liegen. „Aber es hat sich gelohnt.“ Seitdem treffen sich die Bewohner:innen jede Woche, reparieren, sanieren und planen gemeinsam. Und feiern natürlich auch – bald im renovierten Gemeinschaftsraum.
Annette Schrimpf zeigt auf ein Foto an der hinteren Wand der Buchbinderei, eingerahmt von einer alten Heftlade aus Holz. Darauf etwa 40 Männer in schicken Anzügen. Ein Gruppenbild der Mannheimer Buchbinder, darunter Friedrich Schrimpf. Seine Urenkelin hat nur noch einen Kollegen in der Stadt, der eigentlich auch schon in Rente ist. Wie es mit ihrer Werkstatt mal weitergeht, weiß sie selbst noch nicht. „Aus der Familie wird es wohl niemand mehr übernehmen“, sagt sie. Eine fünfte Generation wird es in der Neckarstadt nicht geben. Aber noch will sie nicht allzu viel darüber grübeln. „Ich hab ja noch Zeit! 20 Jahre will ich das auf jeden Fall noch machen.“ Denn Spaß hat sie an ihrem Beruf noch immer. „Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich schon ausgelernt habe. Es gibt immer noch Dinge, die ich gerne ausprobieren, die ich noch machen und lernen will.“ Sie will Buchbinderin sein, solange es geht. „Es ist schließlich der schönste Beruf der Welt!“
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