Die meisten wissen erst seit wenigen Jahren, welche architektur- und kulturhistorischen Schätze es auf ihren Firmengeländen gibt. Sechs, um genau zu sein, denn im Jahr 2009 hatten Hilde Seibert und weitere sieben Mitstreiter – darunter Barbara und Heiner Ritter, Jürgen Hermann und Albert Gieseler – den Verein Rhein-Neckar-Industriekultur gegründet. Der Verein investiert viel Zeit, ehrenamtlich. Das Ziel: „Die industriekulturellen Objekte und Orte in der Metropolregion“ müssten ins Bewusstsein der Menschen, heißt es auf der Homepage.
„Wir wollen Industriekultur erlebbar machen“.
Wie das aussieht, darauf stellt man sich in der Kleingartenanlage auf der Friesenheimer Insel gerade ein. Es ist ruhig an diesem Mittag in dem Vereinslokal. Aber die Vereinsmitglieder sind hier schon bekannt. Zur Woche der Industriekultur Ende August plant man im „Anker 107“ ein „Erzählcafé“. Zu Gast wird dann der letzte Wärter der Kammerschleuse sein – er lebt noch immer wenige Meter von der Kleingartenanlage entfernt in einem Häuschen am Neckar.
Umzingelt von Backsteinen: Hilde Seibert, ausgewiesene Kennerin der Bauhaus-Architektur der „Genossenschaftlichen Burg“ im Mannheimer Industriehafen.
Zeitzeugen interviewen, das ist für den Verein essentiell. „Ohne sie würden wir viele Gebäude und ihre Historie gar nicht verstehen“, sagt Seibert, die erst Politik und Soziologie in Heidelberg und Mannheim studierte, dann zunächst für die DGB-Jugendbildung und später hauptamtlich für die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) arbeitete – und durch die Hintertür zur Architektur kam. In den Chefetagen und Fabrikhallen der Friesenheimer Insel hatte sie einst Tarifverträge ausgehandelt, Streiks begleitet – und manches Mal dabei zugesehen, wie Fabrikgebäude verschwanden.
„Die Herausforderung war zu zeigen, dass es in dieser vermeintlichen Schmuddelecke echte Juwelen gibt“.
Als 2011 der Verein beschließt, zur Langen Nacht der Museen Bootstouren durch den Hafen anzubieten, steht Hilde Seibert nicht nur stundenlang mit einem Mikrofon auf dem Deck, um die Geschichte der vorbeiziehenden Fabriken zu erzählen. Sie sorgt auch dafür, dass die meisten Firmen ihre Gebäude leuchten lassen – von innen. „Die Museumsnacht war wie ein Paukenschlag“, sagt Seibert. 5000 Menschen kamen damals in den Industriehafen, um einen Teil der Stadt zu entdecken, der doch eigentlich schon in dieser Form mehr als 100 Jahre besteht.
Die Bauhaus-Architektur im Mannheimer Industriehafen überrascht mit spannenden Details: Ein Charakteristikum ist die bewusste Verwendung von dunklen, uneinheitlich gebrannten Klinkern – manche wirken regelrecht „verbrannt“.
Ausgerechnet an einem Ort, der sich durch den Zeit- und Erfolgsdruck der Firmen immer wieder aktualisiert, hat sich ein wichtiger Teil der Kunst- und Architekturhistorie erhalten. Und eine ungewöhnliche Fauna und Flora: Die Idee, einen Verein für Industriekultur zu gründen, war auch durch die Touren des Naturschutzbundes BUND entstanden. Damals hatte die gerade frisch pensionierte Geschäftsführerin der NGG Rhein-Neckar die Insel mit dem Fahrrad erkundet und seltene Pflanzen und Tiere entdeckt – Kuriositäten wie etwa den Seidelbast oder die riesige Eselsdistel, die durch den jahrzehntelangen Schiffsverkehr hierher kamen.
„Wir wussten, dass es darüber hinaus noch viel mehr schützenswerte Dinge im Hafengebiet gibt“.
So gibt es auf der Friesenheimer Insel eine Getreidemühle im Jugendstil, ein neogotisches Klärwerk, ein historistisches Fachwerkhaus und eben jene Pyramide aus dem Barock. Viele Gebäude aus der Gründerzeit sind heute längst keine Industriestandorte mehr. In der Oberrheinischen Kartonagefabrik sitzt das Modelabel von Dorothee Schumacher oder in der Bettfedernfabrik ein Kaffeeröster und Kreative. Hilde Seiberts liebster Ort ragt aus Backstein wie ein Monument der Moderne empor. Die „Genossenschaftliche Burg“ entstand Anfang der 30er Jahre im Stil der Neuen Sachlichkeit und des Expressionismus als Fabrik für Mehl, Teigwaren und Malzkaffee. Heute sind in dem imposanten, denkmalgeschützten Komplex nicht nur Lager, sondern auch Ateliers untergebracht. Ein Areal, das für die Öffentlichkeit nur dann zugänglich wird, wenn der Verein es mit Führungen und Vorträgen öffnet.
Die Fassaden der 1929 erbauten „Genossenschaftlichen Burg“ beeindrucken durch die Ästhetik der Klinker, die je nach Lichtsituation warm dunkelrot bis düster blau-schwarz erscheinen.
Um die Besonderheiten des Hafengeländes dokumentieren zu können, hat man 2014 mit finanzieller Unterstützung der Stadt Mannheim die „Wege zur Industriekultur“ mit 31 Infotafeln eingerichtet. 250 Gebäude und Objekte sind auf der Vereinsseite im Internet erfasst. Seit der Museumsnacht gab es zudem Ausstellungen und Bücher etwa zur Architektur und Geschichte der Mannheimer Miederwarenfabrik „Felina“, zur Arbeiterbewegung oder zur Bauhaus-Architektur. Dabei dokumentiert, thematisiert und kommentiert man Gebäude und ihre Historie in der gesamten Rhein-Neckar-Region. Und manche rettet man so auch vor dem Abriss, wie etwa die historischen Gebäude des Maschinenbau-Unternehmens Vögele in Neckarau, für die man Unterschriften sammelte. Und damit ein wichtiges Stück Stadt erhielt.
rhein-neckar-industriekultur.de