Die Heimat in Wunderkammern

Heimatmuseen sind öde? Das Langbein Museum im südhessischen Hirschhorn zeigt, dass das nicht so sein muss. Besucher:innen begeben sich hier auf die Spuren eines leidenschaftlichen Sammlers mit einem Sinn für Skurriles und Alltägliches. Durch Wunderkammern, die vollgepackt sind mit Geschichten. Über Hirschhorn und seine Menschen, über die Flora und Fauna der Region und einen berühmten Gast: Mark Twain.

Schon der Flur zeigt: Das hier ist kein gewöhnliches Heimatmuseum. Er leuchtet in einem kräftigen Rot. Eine knarzende Holztreppe führt in den zweiten Stock des ehemaligen Forsthauses in Hirschhorn. Auf den Glasscheiben im Flur sind die Ausstellungsstücke verzeichnet, die Besucher:innen gleich im Langbein Museum erwarten. Es sind viele. Sehr viele. Aneinandergereiht ohne sichtbare Logik.

Auch der erste Raum ist zunächst: ein großes Durcheinander. Vor grasgrünen Wänden hängen Zeichnungen, Bilder und ein Hirschgeweih. Schaukästen zeigen Muscheln und Werkzeug, von oben blickt ein ausgestopfter Fasan herab. Aloisia Sauer, Vorsitzende des Museumsvereins, lächelt und lässt ebenfalls den Blick schweifen. „Ich bin seit 2018 im Museumsverein und war unzählige Male in diesen Räumen. Aber jedes Mal entdecke ich wieder etwas Neues.“ Nur wer sich Zeit nimmt für einen zweiten Blick, erkennt Zusammenhänge und bekommt mit jedem Gegenstand im Raum ein genaueres Bild des Menschen, der all das zusammengetragen hat.

Blick aus der ersten Wunderkammer auf ein Porträt des jungen Carl Langbeins.

Carl Langbein, 1816 in Hirschhorn geboren, war ein ungewöhnlicher Mensch und ein leidenschaftlicher Sammler. Den Wert von Gegenständen wog er allerdings nicht in Geld auf. Für ihn konnte ein schön verarbeiteter Hosenknopf genauso wertvoll sein wie ein Gemälde oder ein Möbelstück. Solange er etwas zu erzählen hatte. Von der Kunstfertigkeit seines Machers, von der Seltenheit des verwendeten Materials, von der Trägerin des Kleidungsstücks, an dem er angebracht war. „Als warmer Teilnehmer alles Schönen und Religiösen, der Kunst und Wissenschaftangehörigen“, bezeichnete er sich in einem Brief selbst. Und Carl Langbein sammelte nicht nur. Er zeichnete auch, dichtete und musizierte, stellte Möbel her und präparierte Tiere. „Heute würde man wohl sagen, er war hochbegabt“, ist sich Aloisia Sauer sicher.

Eigentlich war Carl Langbein Rindenhändler. „Wie viele Hirschhorner zu seiner Zeit“, erzählt Sauer. Das kleine Städtchen am Neckar, das heute als „Perle des Neckartals“ gilt, war damals einer der größten Umschlagplätze für Eichenrinden. Langbein kam viel herum, brachte von jeder Reise etwas mit und bewahrte, was in seiner Umgebung drohte verloren zu gehen. 1840 erwarb er den „Darmstädter Hof“, ein Gasthof mit Hotel, der fortan „Zum Naturalisten“ hieß und bald einem Naturkundemuseum glich. Langbein füllte Raum um Raum, während seine Frau Maria und seine Schwester Ida die eigentlichen Geschäfte führten.

Die Sammlung ist ein unglaublicher Schatz

Aloisia Sauer

Das erfahren die Besucher:innen von Ida selbst – über den Audio-Guide, der durch die Ausstellung führt. Aufgenommen ist er aus verschiedenen Perspektiven. Entweder führt Langbein selbst durchs Museum – oder seine Schwester. Mal gibt es Anekdoten von Menschen aus Hirschhorn, mal erzählen Kinder, wie sie das Museum erleben und was sie besonders spannend finden. Auch Mark Twain tritt als Erzähler auf. Er war wohl der berühmteste Hotelgast im „Naturalisten“. 1878 war der Schriftsteller auf einer Neckartour und landete in einer stürmischen Regennacht in Hirschhorn. Festgehalten hat er seinen Besuch, satirisch zugespitzt, in seinem Werk „Bummel durch Europa“. Darin erzählt er auch von einer ausgestopften Eule, die ihn kaum schlafen ließ. Sie starrte ihn die ganze Nacht an – „mit der Miene eines Menschen, der glaubt, mich schon einmal gesehen zu haben, sich dessen aber nicht sicher ist.“ Die schneeweiße Eule ist heute im Museum zu bewundern – und schaut noch immer leicht verwundert zurück. 

Literarisch verewigt: Während Mark Twain im „Naturalisten“ von einer Eule angestarrt wurde, bekam sein Begleiter Angst vor einer ausgestopften Katze.

Es ist ein gewaltiges Erbe, das Langbein den Menschen von Hirschhorn hinterlassen hat. „Die Sammlung ist ein unglaublicher Schatz – aber die große Frage war immer: Wie stellt man das aus?“ Wie präsentiert man das Bruchstück einer Vase neben einer Ritterrüstung? Zum Glück gab es in der Stadt jemanden, der Langbein verstand: Dr. Ulrich Spiegelberg, Kinderarzt und leidenschaftlicher Hobby-Historiker. Er war viele Jahre Vorsitzender des Museumsvereins und erarbeitete gemeinsam mit dem Ausstellungsgestalter Jörg Werner einen Rahmen für das Museum. Sie wollten eine Ausstellung, die Skurriles und Alltägliches vereint, und griffen dabei auf das Konzept der Wunderkammern zurück. Jeder Raum im Museum hat ein übergeordnetes Thema. „Bei Führungen lassen wir die Gäste oft raten, was das Thema jeweils ist“, erzählt Aloisia Sauer. Denn dann fangen die meisten an, nach Verbindungen und Zusammenhängen zwischen den Exponaten zu suchen – und zu finden.

Welche Geschichte hat der geweihlose Hirsch wohl zu erzählen?

Aber oft genug bleiben kleine und größere Irritationen, die zum Nachfragen bewegen. Und genau das auch tun sollen. Was zum Beispiel hat das Elefantenohr mit Hirschhorn zu tun? „Das wurde gegerbt – mit Eichenrinden“, erzählt Aloisia Sauer. Und warum hängt der geweihlose Hirsch im Raum mit den religiösen Gegenständen? „Der hat hier tatsächlich in den Wäldern um Hirschhorn gelebt. Er war geweihlos, hat aber dennoch ein Rudel geführt – solche Hirsche nennt man auch ‚Mönch‘.“ Das Museum steckt voller solcher Irritationen, überraschender Aha-Momente und humorvollen Andeutungen. So ist es auch kein Zufall, dass das Ölgemälde der Kurfürstin Elisabeth Auguste schief an der Wand hängt…

Ebenfalls im Museum verewigt: Die Kettenschifffahrt auf dem Neckar.

Einige Vitrinen der Ausstellung sind nach wie vor leer. Es sind kleine Aufforderungen an die Besucher:innen, selbst zu überlegen, was hier noch reinpassen könnte. Denn die Sammlung wächst ständig weiter und bewahrt nach wie vor Hirschhorner Geschichte(n). So wie den großen Holztisch, der früher im Karmeliterkloster unterhalb des Schlosses stand. Oder die Ritterrüstung und Waffen, die an die große Zeit der Herren von Hirschhorn erinnern, denen früher unter anderem auch das kleine Dorf Mannheim gehörte.

Früher saßen hier Mönche, heute tagt an diesem Tisch der Museumsverein oder snacken kleine Besucher.

Aloisia Sauer ist selbst noch immer eine begeisterte Besucherin des Museums. Sie ist in Hirschhorn aufgewachsen und kehrte 2014 in ihre Heimat zurück. Dem Museumsverein trat sie eigentlich nur bei, weil dieser damals händeringend eine zweite Vorsitzende suchte und sie schließlich nachgab – als man ihr versicherte, dass sie nicht viel mehr tun müsse, als ab und an anwesend zu sein. Doch sie hat sich anstecken lassen von Spiegelbergs Leidenschaft. Und als dieser 2018 überraschend starb, übernahm sie den Vorsitz. „Er fehlt, noch immer. Es sind große, riesige, Fußstapfen, die er hinterlassen hat“, sagt Aloisia Sauer. Sie versucht gar nicht erst, sie auszufüllen. „Da fehlt mir einfach die historische Sachkenntnis“, gibt sie zu. Als Unternehmensberaterin sieht sie ihre Aufgabe woanders: Sie will das Museum zum Museum der Hirschhorner machen und noch viel mehr Besucher:innen anlocken. „Ich glaube, vielen ist gar nicht bewusst, was wir hier für ein Kleinod haben.“ 

Selbst als Architekt hat sich Langbein versucht, wie das Holzmodell einer Burg zeigt, das am Ende der Ausstellung zu sehen ist. Ein utopischer Traum? „Nein, er hat sogar angefangen zu bauen“, erzählt Sauer. Es sollte ein Ort werden für seine Sammlung. Doch seine Burg wurde nie fertig. Als Langbein starb, kümmerte sich seine Schwester Ida um sein Erbe. Sie sorgte dafür, dass die Sammlung vollständig blieb und vermachte sie schließlich dem Land Hessen. Aloisia Sauer erzählt von weiteren Truhen und Kisten, einem ganzen Archiv voll potenzieller Ausstellungsstücke. „Wir sind noch lange nicht durch.“ Sie lacht. „Ich bin sehr gespannt, welche Schätze und Geschichten wir da noch entdecken werden.“


www.museum-hirschhorn.de

Im Erdgeschoss des Museums befinden sich neben der Hirschhorner Tourist-Info auch Räume für wechselnde Sonderausstellungen. Derzeit öffnet das Museum nach vorheriger Anmeldung bei der Tourist-Info unter Telefon: 06272/1742.

Hirschhorn ist mit der S-Bahn von Heidelberg aus gut zu erreichen und liegt an der Radroute „Kurpfalzachse“, eine von drei Regionalparkrouten durch die Region.

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