In Gottersdorf kann man die Geschichte des Odenwalds fühlen, riechen und schmecken. Dabei ist das Freilandmuseum so sehr aus der Zeit gefallen, dass es aktueller nicht sein könnte.
Die Ritzen im Dachwerk sind so groß, dass Karl Backfisch der Wind wohl ordentlich um die Ohren pfiff. Sicher, der Postbeamte wird im Bett eine Schlafmütze aus Wolle getragen und eine Wärmflasche aus Metall unter der Decke gehabt haben. Und dennoch ist es heute kaum vorstellbar, dass er jahrzehntelang hier übernachtete. Ohne Isolierung oder Wandverkleidung, auch im Winter – von einem an den Dachstuhl genagelten Jutesack einmal abgesehen. Karl Backfischs Bett macht doch ein wenig demütig, wie er so dagelegen haben mag in seinem kurzen Möbelstück unter den rohen Ziegeln. Vielleicht ist das das erste, das man denkt, kaum hat man das Odenwälder Freilandmuseum betreten: Dass hier alles so aussieht, als kämen die einstigen Bewohner gleich wieder. Als kehrten sie gleich wieder an ihre Herde, in ihre Ställe, Betten und Vorgärten zurück.
Sieben Freilandmuseen gibt es in Baden-Württemberg. Das in Gottersdorf ist das nördlichste: „Badisch Sibirien“ wurde dieser Teil des Landes gern genannt. Beamte wurden hierher strafversetzt, denn die Abgeschiedenheit, das raue Klima und die kargen Böden sorgten für bescheidene Verhältnisse. Das wird auch schon am Eingang des Museums sichtbar, dessen Areal sich kurz hinter dem Kassenhäuschen teilt: In Häuser des „Baulandes“, einer Region, in der sich die Muschelkalkböden einigermaßen für den Ackerbau nutzen ließen. Während wenige Täler weiter, im Odenwald, die tonigen Böden für Staunässe und regelmäßige Missernten sorgten. „Die Geschichte des Odenwalds ist auch eine Geschichte der Arbeit, der Armut und der Improvisation“, erzählt die Museumsleiterin Margareta Sauer, dafür steht auch Karl Backfischs Lebensweg: Weil er aus dem Ersten Weltkrieg eine schwere Beinverletzung mitbrachte und auf dem Hof wenig beitragen konnte, betrieb er eine Poststation – auch das ist typisch für den Odenwald, in dem viele in Steinbrüchen, als Zapfenpflücker oder beim Papierblumenfalten in Heimarbeit dazuverdienten.
Museumsleiterin Margareta Sauer
Weil Weizen- oder Haferernten wörtlich ins Wasser fielen, wurde Grünkern angebaut. Schmeckt das auf historischen Darren geröstete Getreide anders als aus dem Geschäft? Im (natürlich historischen) Gasthof kann man es testen. Wie wurde einst gebaut, gewaschen, gekocht? In nahezu jedem Winkel des Museums gibt es historisches Spiel- und Werkzeug, Küchenutensilien, Kleidung oder Möbel, aber auch Tiere und Pflanzen zu entdecken. Weil Material kostbar war, wurde alles wiederverwertet: Etwa die Holzbank in einem der Tagelöhnerhäuser, auf dem ein Restaurator ganze zwölf Anstriche fand. Die Odenwälder recycelten Möbel, Maschinen und manchmal ganze Häuser. Allein im stattlichen Bofsheimer Haus von 1777 hat die Forschung Enormes geleistet: Gleich hinter der – sehr eindrucksvollen – offenen Rauchküche, die man unter Wandverkleidungen fand, reicht der Blick mehrere Meter tief über Kalkstein- und Terrakottareste in die Hausgeschichte bis weit ins Mittelalter hinein. (Bau-) Geschichten wie diese gibt es auf dem Areal zuhauf.
„Aber erst durch die Bewohner wird die Historie lebendig“
Margareta Sauer ist dabei auf die Erinnerung von Zeitzeugen angewiesen: Zwischen Tapete und Stromkasten klemmten etwa Fotos aus der NS-Zeit – welchem Bewohner des Bofsheimer Hauses hatten sie gehört? Auch die Geschichte von Carolina Backfisch, einer Verwandten von Karl, ist noch unerforscht: Laut einer Auswandererliste in Bremerhaven zog die Bauerstochter in die USA – allein. Erhalten sind einige Briefe von ihr, die den schweren Start in der neuen Welt dokumentieren. Und ihr Heimweh.
Baden-Württemberg hat sieben Freilandmuseen, aber nur 750.000 Euro im Jahr an Landesmitteln zur Verfügung. Das steht kaum im Verhältnis zu den 600.000 Menschen, die sie jährlich besuchen – allein in Gottersdorf sind es 25.000 im Jahr. Dass die Stadt Walldürn das Museumsareal mit dem Neckar- Odenwald-Kreis fast ausschließlich aus eigener Tasche finanziert, ist Fluch und Segen zugleich: Ein Segen, weil ein zentrales Freilandmuseum für das gesamte Bundesland den Odenwald bestenfalls auf zwei, drei Höfe reduzieren würde, hier aber 17 vom Tagelöhnerhaus bis zum stattlichen Großbauernhof zu sehen sind. Ein Fluch aber auch, weil die Personaldecke damit verständlicherweise dünn und die Infrastruktur schwierig bleibt: Oft sind die eigenen Ressourcen so begrenzt, dass das Museum für einen Antrag auf Landesmittel den notwendigen Eigenanteil kaum stemmen kann. Und auf die Hilfe etwa der Sparkassenstiftung angewiesen ist, die zuletzt die Sanierung und Wiedereinrichtung des Bofsheimer Hauses maßgeblich ermöglichte. Die Toilettenanlage des Museums ist veraltet, die Holzhütte am Eingang ist Kasse, Shop und Eisstand zugleich, die Gastronomie nur am Wochenende geöffnet, die Dreschscheune für Veranstaltungen und Feste ein immerwährendes Provisorium. Das museumspädagogische Programm wird weitestgehend mit Honorarkräften gestemmt. Zeit für die Entwicklung neuer Themen, für wissenschaftliche Publikationen oder Vorträge bleibt da kaum. „Eine große Chance ist für uns die Living-History-Community“, sagt Margareta Sauer, die regelmäßig geschichtsinteressierte Menschen in ihr Freilandmuseum einziehen lässt – im wahrsten Sinne des Wortes. Zuletzt nahmen die Alliierten Gottersdorf nach dem Krieg ein, zogen mit historischen Truppenfahrzeugen und historischen Kleidern durchs Dorf. Klar, dass da das „Haus Bär“ zum Dreh- und Angelpunkt wurde – es zeigt das Leben auf dem Land in den 50er Jahren.
Und wenn der Duft des gedörrten Grünkerns über das Areal zieht, der Odenwald mit all seinen Traditionen und Themen zu sehen, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen ist, wird klar: Im Grunde genommen haben Freilandmuseen wie diese Konjunktur. In Zeiten, in denen sich Menschen nach Heimat sehnen, Magazine die Lust am Land zelebrieren, bieten sie Ursprünglichkeit und, was vielleicht noch wichtiger ist, einen Blick auf Herkunft und Wurzeln. In Walldürn hat man das längst erkannt und ein großes Stück Geschichte gesichert – dem allerdings ein wichtiger Part noch fehlt: Wenige Kilometer vom Freilandmuseum entfernt steht Deutschlands letzte, einst privat geführte Samenklenge, in der die noch grün gepflückten Zapfen heimischer Bäume geröstet wurden, um Saatgut zu gewinnen. Samen aus dem Odenwald, in die ganze Welt verschickt – ein Stück Geschichte hätte damit wieder Zukunft.
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