Auf den Dächern Europas

Im pfälzischen Jockgrim stand eine der größten Ziegeleien der Welt. Hier wurden Dächer für das Olympische Dorf in Berlin oder den Stephansdom in Wien produziert und Ungewöhnliches entwickelt. Etwa ein Kugelhaus – und Wohnräume der etwas anderen Art. Heute erzählt ein Museum ihre Geschichte.

Heiß war es hier. 1050 Grad, um genau zu sein. Dazu stickig und dunkel. Jörg Scherer steht im übermannshohen, gemauerten Ringofen des einstigen „Werk 2“ und erklärt, wie dieser 90 Meter lange Brenner mit Steinkohle befeuert wurde und mit seinen 46 Kammern funktionierte. „21.000 Ziegel wurden auf einen Schlag produziert“, sagt der Leiter des Ziegeleimuseums Jockgrim: „In nur 24 Stunden.“ Denn Pausen gab es in den Falzziegelwerken Carl Ludowici eigentlich nie. Gearbeitet wurde an 365 Tagen im Jahr, rund um die Uhr.

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Ein Stück Pfälzer Industriegeschichte erzählt das Ziegeleimuseum in Jockgrim und unser Video.

Ganze drei Tage brauchte eine Ziegel, um nach dem Brennvorgang abzukühlen. „Dafür ist jede sehr stark, ergibt ein ungemein schönes Dach und hat viel Verbreitung gefunden“, hieß es in einer Werbeschrift der Ludowici Werke Ende des 19. Jahrhunderts. Das war noch untertrieben. Denn zeitweise galt die Firma im kleinen, pfälzischen Jockgrim als eine der größten Ziegeleien der Welt. Der Stephansdom in Wien, die Bahnhöfe in Wiesbaden und Metz oder das Stadttheater in Nürnberg – sie alle waren mit Ludowicis vollkeramischen Ziegel gedeckt.

21.000 Ziegel auf einen Schlag wurden hier einst produziert.

„Vor allem in der Gründerzeit stand die Ludowici-Falzziegel für absolute Qualität“, erzählt Jörg Scherer über den einstigen Marktführer in Europa. Ende des 19. Jahrhunderts wurden täglich 100.000 Ziegel produziert – 27 Millionen im Jahr. Dabei stellte die Firma Material für jede Dachart her – und das mit künstlerischem Anspruch. Davon zeugen eine Vielzahl an Schmuckziegeln in ausgefallenen Tier- und Pflanzenformen, die das Museum zeigt. „Viele Künstler haben bei Ludowici begonnen und sind dann zur Staatlichen Majolika Manufaktur nach Karlsruhe gewechselt“, erzählt Scherer, der den Förderverein des Museums mit dem Bildhauer Karl-Heinz Deutsch leitet. Mit ihm hat er auch einen „Weg der Dächer“ entwickelt, eine Radtour zu 30 besonderen Ludowici-Dächern rund um Jockgrim.

Im restaurierten Pressehaus der Falzziegelei kann man seit 1996 die rund 100-jährige Firmengeschichte nachvollziehen. Anhand von Maschinen, Infotafeln, Fotos, Konstruktionszeichnungen, Mobiliar aus dem Firmensitz und natürlich unzähligen Varianten der Ziegel selbst. „Zurzeit kommen immer mehr Nachlässe von ehemaligen Mitarbeiter:innen ins Haus“, sagt Scherer. Historische Altziegel, aber vor allem 748 Holzmodelle, die zwischen 1883 bis 1956 verwendet wurden, sind im Museumsbesitz – ein Schatz für Denkmalpfleger oder Dachdecker, die sich auf historische Gebäude spezialisiert haben.

Vor allem in der Gründerzeit stand die Ludowici-Falzziegel für absolute Qualität

Jörg Scherer

1857 hatte die Familie Ludowici in Ensheim an der Saar eine erste Firma gegründet, war auf der Suche nach gutem Ton nach Ludwigshafen-Maudach gezogen. 1883 ging das Werk in Jockgrim in Betrieb. „Als Hobby-Archäologe kannte Carl Ludowici die Terra Sigillata, die Keramiken der Römer, sehr gut“, erzählt Jörg Scherer, der sich ehrenamtlich für das Museum engagiert und eigentlich ein Steuerbüro in Jockgrim hat. Schon vor 2000 Jahren hätten die Römer den grauen, leicht formbaren Ton zu schätzen gewusst, von dem es bis heute noch reichlich im Bienwald gäbe. Auch wenn es zur Schließung des Werks 1972 hieß, die Vorkommen seien erschöpft. „In Wahrheit hätte die Firmenspitze nach dem Krieg nicht in alte Technologien investieren, sondern die Produktion auf Elektro oder Öl umstellen sollen.“ Zugleich hätten die Benz-Werke immer mehr Arbeiter abgeworben.

Der renommierte Architekt Stephan Böhm hat eine neue Gemeindemitte auf den spektakulären Ringofen gebaut.

Ein Modell von Jockgrim zeigt, wie sehr Ludowici jahrzehntelang das Dorf prägte. Bevor 1883 die Ziegelei-Produktion startete, hatte es Auswanderungswellen nach Amerika oder Afrika gegeben. „Die Werke machten aber dann aus der armen Bauernsiedlung eines der produktivsten Industriedörfer Deutschlands“, sagt Jörg Scherer, dessen Großvater als Werksschreiber bei Ludowici gearbeitet hatte. Zeitweise sei jeder Zweite in Jockgrim bei der Ziegelei angestellt gewesen – mit allen Vor- und Nachteilen: Schon früh sorgte die Firmenspitze mit einer Kantine, mit sanitären Anlagen, einer Krankenversicherung und Werksiedlungen für Absicherung. Zugleich hielt sie ihre Mitarbeiter:innen auch in Abhängigkeit: „Züge, die auf dem Weg zur BASF in Ludwigshafen fuhren, durften nicht in Jockgrim halten – um den Abzug von Arbeitern zu verhindern“, erzählt Scherer. 1935 betrieb Ludowici zwölf Zweigstellen in Frankreich, Deutschland und den USA. Bis heute existiert im US-amerikanischen Lexington ein einstiges Tochterunternehmen, das Ludowici-Ziegel produziert.

Die riesige Ziegelei prägte das kleine Dorf in der Pfalz.

Größtes Exponat des Ziegeleimuseums ist die Produktionsstätte selbst, der einst sechs Stockwerke hohe Ringofen. Der renommierte Architekt Stephan Böhm nutzte ihn als Untergeschoss eines modernen Verwaltungsgebäudes der Verbandsgemeinde um – und kreierte so eine eindrückliche neue Ortsmitte. Hier wartet eine von vielen Erfindungen, die Johann Wilhelm Ludowici (1896-1983) machte. „Er war sicherlich die schwierigste, die ambivalenteste Führungsperson in der Firmengeschichte“, sagt Jörg Scherer: Schon 1923 sei der promovierte Ingenieur als eines der ersten Parteimitglieder in die NSDAP eingetreten. „Die prekäre wirtschaftliche Situation, die Abhängigkeit von der Ziegelei und nicht zuletzt auch der Einfluss des Fabrikanten selbst dürften dazu geführt haben, dass bei den Wahlen im März 1932 fast 50 Prozent der Jockgrimer NSDAP wählten“, heißt es auf der Homepage der Gemeinde.

Nach der Machtübernahme sei der alte Bürgermeister „gewaltsam aus dem Amt gedrängt“, der Gemeinderat „gesäubert“ und die Vereine gleichgeschaltet worden. 1933 übernahm Johann Wilhelm Ludowici die Leitung des Reichsheimstättenamts der Deutschen Arbeiterfront. Ein Jahr später berief ihn Adolf Hitler zum Reichskommissar für das Siedlungswesen. 1935 brachte er den Nationalstein oder -ziegel auf den Markt – genormt, codiert, wie seine Ludowici-Ziegel. Im Jahr darauf wurde das Olympische Dorf in Berlin mit Keramiken aus seiner Firma gedeckt, bis 1939 stieg die Zahl seiner Beschäftigten auf 1100 Mitarbeiter. „Es hat auch etwa 200 Zwangsarbeiter aus Polen und Russland in Jockgrim gegeben“, sagt Jörg Scherer. 2015 hatte er ein Theaterprojekt zur 750-Jahr-Feier des Ortes mitinitiiert, in dessen Zuge auch 80 ehemalige Mitarbeiter:Innen der Ludowici-Werke interviewt wurden. Doch aufgearbeitet ist ihre Geschichte bisher nicht. Auch im Museum selbst findet sich nichts zur NS-Zeit. „Der Nationalsozialismus in Jockgrim ist ein Thema, mit dem wir uns nicht zuletzt in unserem Museum noch dringend beschäftigen müssen.“

Kugel mit Aussicht.

Johann Wilhelm Ludowici war ein hochrangiger Nationalsozialist – und ein „Tüftler“, wie Scherer sagt. Satte 1447 Patente meldete er in seinem Leben an – vom Fertighaus bis zum Hubsteiger. In den 50er Jahren entwickelte er eines der ersten Stahlskelett-Bauten Deutschlands, ein vollständig aus Dachziegeln gebautes „Hochhaus“ für die Fahrer der Ludowoci-Werke, das bis heute den Ortseingang prägt. Matt glänzt eine Kugel auf dem Museums-Areal, das mit seinen großen, runden Fenstern eher an ein Ufo, denn an ein Einfamilienheim denken lässt. Weil die belgische Regierung komplette Wohnungen für entlegene Gebiete in Belgisch Kongo bauen lassen wollte, entwickelte Ludowici erdbebensichere Gebäude aus Beton – mit einem Durchmesser von 4,50 Metern, auf dem ein Zwei-Personen-Haushalt Platz finden sollte. Fotos im Museum zeigen das Konstrukt, wie es auf der Themse schipperte – auf dem Weg 1959 zur Weltausstellung in London.

Familienleben auf 4,50 Meter Durchmesser.

Während der Förderverein 2002 die Stahlkugel sanieren ließ, hat sich eine zweite Betonkugel mit Teilen des Mobiliars in Neupotz erhalten. Wer „Ludowici Kugelhaus“ bei Google eingibt, landet auf dem entlegenen Areal der Kiesgrube Kuhn – und macht einen Zeitsprung: Durch die offen stehende Tür der leider stark in Mitleidenschaft gezogenen Wohnkugel kann man es noch sehen, das einstige Mobiliar. Mit geschwungenem Vordach und Küche, Schränken und Spüle, Wohn-Schlafzimmer, abgerundeter Badewanne und einem Fach in der Wohnungstür – für Tageszeitung, Milchflasche und Brötchen. Wer in die Wohnkugel schaut, erahnt ihn noch, den Flair der 50er Jahre. Im Wohnpatent aus Jockgrim, das seiner Zeit wohl zu sehr voraus war, um in Serie zu gehen. Als kleines Wohnwunder aus der Pfalz.


https://www.vg-jockgrim.de/ziegeleimuseum

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