Ein Besuch im Heidelberger Zuckerladen von Marion und Jürgen Brecht schmeckt süßlich-herb – wie ein Karamellbonbon, das auf der Zunge zergeht. Er riecht nach Anis, nach Lakritz und morschem Holz. Und fühlt sich an wie eine warme Umarmung.
Jürgen Brecht dreht im Inneren des Zuckerladens am Messingknopf der Holztür. Ihr Lichtfenster ist mit rotem Samt verhängt. „Komm‘ herein“, sagt der Mann mit der XL-Hornbrille, der das „Sie“ aus dem Zuckerladen verbannt hat. Er tritt einen Schritt zur Seite und öffnet das Tor zu einem Sammelsurium aus Antiquitäten, Kuriositäten und Süßigkeiten.
Hunderte Bonbongläser reihen sich hier aneinander. Cola-Fläschchen, Schlümpfe, saure Drops, Weingummi, Lakritzschnecken. Sorgsam drapiert in einem Regal, das in einem früheren Leben mit Spulen einer Heidelberger Kunststopferei gefüllt war. Die Schiebeelemente des Schranks haben Marion und Jürgen schräg an der Decke befestigt. Dahinter klemmen Ausgaben der Bild-Zeitung aus den 60er Jahren. Eine Hörzu, die titelt: „Die ersten Vollbildfernseher sind da.“ Jeder Zentimeter der 70 Quadratmeter großen Verkaufsfläche stiebt Geschichte aus. Oder persönliche Anekdoten. Oder beides. „Wir verfolgen kein bestimmtes Konzept. Der Zuckerladen ist etwas, das in den vergangenen Jahrzehnten einfach gewachsen ist“, sagt Marion. „Etwas Authentisches.“
Am 22. Juli 1986 begannen sie, die Speyerin, und er, der Norddeutsche, im Kleinen ihr süßes Geschäft. In einem winzigen Laden, ganz in der Nähe. Zwei Mal zog der Zuckerladen innerhalb der Plöck um. Eine besondere Adresse in der Altstadt: „Plöck“ bedeutet so viel wie Ackerstück – ein Verweis auf die Dreifelderwirtschaft im mittelalterlichen Heidelberg. An der Hinterseite der Hauptstraße verläuft sie als Mischung aus Fußgängerzone, Fahrradweg und „normaler“ Straße. Hier tummeln sich kleine Geschäfte – vom Geschenkladen bis zur Bäckerei. Mittendrin: der Süßwarenladen, der so viel mehr ist.
Der Zuckerladen liegt in der Heidelberger Plöck.
Am 22. Juli 1986 eröffneten Marion und Jürgen Brecht ihren Laden.
Ein Konzept haben sie nicht...
...der Laden sei "in den vergangenen Jahrzehnten einfach gewachsen".
Heute ist der Laden ein Sammelsurium...
...aus Antiquitäten, Kuriositäten und Süßigkeiten.
Denn um die...
...geht es immer noch hauptsächlich.
„Unsere Produkte, die Süßigkeiten, die sind uns natürlich wichtig. Wir suchen sie sorgsam aus“, sagt Marion. Der Zuckerladen umfasst hunderte süße Sorten, vielleicht auch mehr. Marion und Jürgen haben die Stücke in ihrem Sortiment nie gezählt. Es reicht von französischen Trüffeln über Marshmallow-Gestecke und Softgummi-Torten bis zu Karamell aus einem kleinen schwedischen Örtchen. Darunter auch: immer mehr Veganes und nachhaltig Produziertes.
„Wir möchten eine kleine Insel sein.“
Jürgen Brecht
Noch wichtiger sind den Zuckerladen-Betreibern aber die Menschen, die sich bei ihnen tummeln (zu Stoßzeiten sind es immerhin bis zu 40 Kunden gleichzeitig). „Wir möchten, dass sie mehr mitnehmen als eine gemischte Tüte“, sagt der Ladenbetreiber mit dem charakteristischen weißen Ziegenbart. Auch Freude, Genuss – und Nähe. Ehrliches Interesse am anderen, eine warme, innerliche Umarmung. „Wir möchten eine kleine Insel sein.“ Und tatsächlich scheint die Zeit inmitten von so viel Zucker und Herz still zu stehen.
„Wir haben Stammkunden auf der ganzen Welt“, erzählt Jürgen. Menschen, die in Heidelberg studiert oder die als Kinder etwas „Kaputtes“ bei ihnen genascht haben. Halbe Colakracher oder zerbröselte Brausedrops, die im Zuckerladen nicht mehr verkauft, sondern verschenkt werden. In 35 Jahren haben Marion und Jürgen keine Werbung geschaltet. Ihr Geschäft funktioniert über persönliche Empfehlungen. Die Altersstruktur der Kunden: „Vom Kind bis zum Greis ist alles dabei. 90 Prozent sind allerdings Erwachsene“, sagt Marion. Und diese haben von Zeit zu Zeit selbst Geschenke dabei. An der Decke, über der Verkaufstheke, hängt ein elfeinhalb Meter langes Boot – ein „Mitbringsel“ des Heidelberger Ruderclubs. Jürgen und die Heidelberger Ruderer mussten einen Teil des Hecks absägen, um es in den Laden zu wuchten. Vom Bug baumeln Fußballschals vom Bundesliga- bis zum Oberligaverein – Stücke aus Jürgens Sammlung, der „eigentlich alles“ sammelt. Von Flohmärkten und Dachböden. „Vielleicht rührt das von der Kindheit her. Vielleicht macht man das, wenn man selbst nicht viel zum Spielen hatte“, sagt er.
Hinter der Verkaufstheke reihen sich Zigarettenschachteln aus längst vergangenen Zeiten aneinander, der Originalpreis: vier Pfennige. An der Wand hängen historische Wahlplakate. Unter einem angegilbten Poster von Dieter Thomas Kuhn stapeln sich Bücher. Hardcover, zerfledderte Taschenbücher und Zeitschriften. Abgegriffene Plastikfiguren. Spendenbüchsen für den Frauennotruf und den Kinderschutzbund. Eine Alien-Puppe im hintersten Regal: „Du glaubst gar nicht, wie viele Menschen den schon kaufen wollten“, sagt Marion und lacht.
In der Schaufensterauslage steht ein ausgemusterter Zahnarztstuhl – ein weiteres Geschenk. Ein Kunde löste seine Praxis auf und lud Marion und Jürgen dazu ein, Teile des Inventars in ihren Laden zu integrieren. Ihr Hang zur Ironie und zum Sarkasmus wabert durch den Zuckerladen wie der Duft von Anis, Lakritz und morschem Holz.
Die meiste Zeit ihres Lebens verbringen Jürgen und Marion hier, in der Plöck 52. Oft zwölf Stunden täglich. Manchmal bis in die Nacht hinein. In einem Gebäude, in dem sich vor zwei Jahrhunderten russische Studierende trafen, um in der „Russischen Lesehalle“ im ersten Stock verbotene Literatur zu wälzen.Darunter bestellen Jürgen und Marion heute Ware und verräumen sie, bedienen und plaudern. Nur sie beide. Im Hinterzimmer arrangieren sie Tortenkreationen und süße Geschenke. „Dazwischen mache ich die Buchhaltung“, sagt Marion. Ihre Bilanz: „Wir verkaufen keine Autos, sondern bunte Tüten für wenige Euro. Damit wird man nicht reich.“ Der Zuckerladen ist ihr Lebenswerk und „ein Stück Zuhause“. Ein Ort, an dem genascht und gespielt wird. Denn jeder Besucher muss nach dem Bezahlen mit Jürgen würfeln. Gespielt wird um Lollis, Brause und Gummibärchen. Solange, bis der Kunde gewinnt. Und mit einer innerlichen, warmen Umarmung den Laden verlässt.
Hinweis der Redaktion: Im Frühjahr 2024 hat Antonia Brehme den Heidelberger Zuckerladen übernommen, um ihn an einem neuen Standort in der Neugasse wiederzueröffnen.
Ein kleines Würfelspiel ist für alle Kunden Pflicht.
Ein Ort in der Heidelberger Altstadt, wie er individueller nicht sein könnte.
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