Es geschah vor 7.000 Jahren. In der Jungsteinzeit wurden im heutigen Herxheim in der Südpfalz bis zu 1.000 Menschen getötet, zerschmettert und vergraben. Opfer? Kannibalismus? Weltweit diskutieren Archäologen über die Hintergründe des rätselhaften Ritualgeschehens. Das Museum vor Ort ist auf dem neuesten Stand der Forschung und erzählt einen spannenden Steinzeitkrimi – noch während er entdeckt wird.
Seit 1995 ist in Herxheim bei Landau nichts wie es vorher war. Westlich des Ortes sollte ein neues Gewerbegebiet entstehen, doch dann geschah etwas Außergewöhnliches: Archäologen entdeckten im fruchtbaren Lößboden unzählige Knochen und Knochenreste: zerschlagene Menschenschädel, zersplitterte Kiefer – die Überreste eines Massakers?
Jutta Hartmann, die Leiterin des Vereins „Südliche Weinstrasse Herxheim“, erinnert sich genau an die Zeit, als die Ausgrabungen starteten. Sie selbst kniete mit einem Pinselchen in der Hand in den Grubenringen und trug vorsichtig Schicht für Schicht den Boden ab: „Viele Herxheimer und Hobbyarchäologen halfen damals mit. Und alles, was wir gefunden haben und irgendwie ungewöhnlich aussah, wurde von uns Laien auf einer Holzlatte abgelegt – und dann später von Profis beurteilt.“
Wie in einem Krimi setzte das wissenschaftliche Team um die Archäologin Dr. Andrea Zeeb-Lanz (Generaldirektion Kulturelles Erbe, Landesarchäologie Speyer) die Puzzleteile zusammen – und sie sind mit der Arbeit noch lange nicht fertig. Immer wieder gewinnen die Archäologen neue und teilweise auch für unser moralisches Verständnis verstörende Erkenntnisse. „Die Opfer wurden möglicherweise vor Ort getötet, in jedem Fall aber kurz nach ihrem Tod zerlegt und ihre Knochen noch im frischen Zustand zerschlagen – darauf weisen unter anderem spiralig gebrochene Knochen hin“, erklärt Archäologin Lhilydd Frank. Sie hat in Heidelberg Ur- und Frühgeschichte studiert und leitet nun das Museum Herxheim, das in einem Tabakbauernhof des 18. Jahrhunderts die Welt der steinzeitlichen Bandkeramischen Kultur präsentiert.
Mit kleinen schwarzen Zahlen und Nummern versehen, liegen heute stapelweise Knöchelchen in den Museumsvitrinen. „Die Körper wurden systematisch zerschlagen“, sagt Lhilydd Frankund fassungslos nimmt man die Schnittspuren an den Knochen zur Kenntnis, wie sie ein Metzger beim Zerlegen eines Schlachttiers hinterlassen würde. Es sind Knochen von hochgerechnet über 1.000 Männern, Frauen und Kindern, dazu Tierknochen und auch zerschmetterte Tonscherben und Steinartefakte. Die Forschungen ergaben, dass das mysteriöse und in seiner Brutalität erschreckende Ritual während einer Zeitspanne von 50 Jahren mehrfach stattfand. Dass das Zertrümmern kein normales Bestattungsritual gewesen sein kann, zeigen Bestattungen der gleichen Kultur, die sehr regelhaft ausgeführt wurden – wie man es beim bekanntesten Exponat im Herxheimer Museum sehen kann. Die Südtiroler haben „Ötzi“ – die Pfälzer haben „Herxi“: die bestens dokumentierte steinzeitliche Hockerbestattung eines erwachsenen Mannes zieht Museumbesucher magisch an – sie schauen durch einen Glasboden von der Museumsebene Parterre direkt auf ihn hinab. Friedlich gebettet, in der Stellung eines Embryos, wurde „Herxi“ damals von seinen Mitmenschen bestattet.
Besucher, die zu uns kommen, steuern unser Museum sehr bewusst an, sind sehr interessiert und nehmen dafür auch lange Reisen in Kauf.
Jutta Hartmann
Überhaupt ist die Museumsebene, welche die Besucher zuerst betreten, ein friedlicher Ort. Wer das Museum besucht, lernt, dass die „Herxheimer“ der Jungsteinzeit fleißige und bereits sesshafte Bauern waren und in Langhäusern wohnten. Sie konnten Kleidung fertigen, stellten Pfeilspitzen und Schmuck her. Sie verzierten ihre Gefäße mit charakteristischen Ritzungen – und diese linearen Muster auf ihrer Keramik gab ihrer Kultur ihren heutigen Namen: die „Bandkeramik“.
Doch etwas Ungewöhnliches geschah damals vor 7.000 Jahren und die friedlichen Bande zersprangen – im wahrsten Sinne des Wortes. „Es weist einiges darauf hin, dass sich die bandkeramischen Menschen zur Zeit des Ritualgeschehens in einer Identitätskrise befanden“, erklärt Lhilydd Frank. Man kann heute niemanden mehr dazu befragen, aber die dekorativen Ornamente auf der Keramik begannen sich zu verändern, und die Großkultur der Bandkeramik zerfiel in regionale Gruppen – bevor sie letztendlich ganz verschwand.
Inzwischen wissen die Archäologen, dass die damaligen „Herxheimer“ bei den Ritualgeschehen nicht die Opfer waren. „Wir können durch eine Zahnschmelz-Untersuchung der Opfer nachweisen, dass sie nicht auf Lößboden lebten – also nicht hier“, sagt Lhilydd Frank, „sie stammten aus Gegenden mit Granitgestein, also aus einer Gebirgsregion.“
Wurden die Menschen hierher verschleppt? Haben sie sich freiwillig geopfert als Gabe für die Götter? Wurde das Menschenfleisch gar von den Ausführenden des Rituals anschließend verspeist? Und warum fand dieses in seiner Dimension sehr ungewöhnliche Ereignis gerade hier statt? Ein Rätsel mit vielen Fragen – und bislang noch wenigen sicheren Antworten.
Heute interessiert sich eine ganz spezielle Gruppe von Besuchern für das Herxheimer Museum. „Das ist nichts für Normaltouristen“, weiß Jutta Hartmann. Diese suchen – typisch Pfalz – nach Wein und Geselligkeit. „Aber die Besucher, die zu uns kommen, steuern unser Museum sehr bewusst an, sind sehr interessiert und nehmen dafür auch lange Reisen in Kauf.“ Das ist wenig verwunderlich, denn das überregionale und internationale Echo auf den Herxheimer Fund war groß. Das Magazin „Zeit Wissen“ berichtete ebenso wie die „Bild“, die britische Zeitung „The Guardian“ oder das französische Magazin „Archéologue“.
Jutta Hartmann berichtet voller Begeisterung über die positive Resonanz zur Herxheimer Aufarbeitung der Jungsteinzeit. Seit dem Jahr 2000 führt die Betriebswirtschaftlerin und gebürtige Herxheimerin das Tourismusbüro des Ortes und strahlt vor positiver Energie. Im Sommer 2018 wurden alle 51 Tourismusbüros der Metropolregion Rhein-Neckar mit einem „Mystery-Check“ getestet. Das Ziel der Befragung: „Wie gut ist der Gästeservice der Region?“. Jutta Hartmann und ihr Team punkteten bei Telefonanrufen und Mail-Anfragen mit dem besten Service – aber vielleicht auch mit pfiffigen Events wie „rollende Weinproben“ oder Zigarren aus der traditionellen Tabakanbaugemeinde Herxheim. Und dann ist da dieses einmalige Museum der 1.000 Toten – das die Jungsteinzeit in die Jetztzeit beamt. Es mag in diesem Zusammenhang ein wenig makaber klingen, aber es ist ohne Zweifel: Wenn die Herxheimer etwas machen, dann richtig – und mit Herzblut.
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