Spielerische Reise in die Vergangenheit

In Deutschland kennt heute kaum noch jemand den Namen der Gebrüder Bing. Dabei produzierte ihre Nürnberger Firma einst Spielsachen für Kinder auf der ganzen Welt. Uwe Groll hat über 2000 Stücke aus ihrem Sortiment gesammelt – von der Miniatur-Achterbahn bis zum Nachzieh-Elefanten. Und mit dem Spielzeugmuseum Freinsheim eine Welt voller Blech, Plüsch und Kinderträume geschaffen.

Uwe Grolls Lieblingsstück wartet in einer Vitrine im Erdgeschoss. Fast unscheinbar, recht steif und ziemlich ernst blickt „Mr. Propellor“ durch die Glasscheibe. Sein Regal teilt er mit einem Dackel auf Rollen und einer Handvoll Puppen. „Ich darf gar nicht sagen, was der gekostet hat“, sagt der Gründer des Spielzeugmuseums Freinsheim, nimmt das dürre Kerlchen in der roten Uniform heraus und dreht ein paarmal an dem Vierkantschlüssel, der in der Brust von Mr. Propellor steckt. „Wusch!“, schon flitzt der Eilbote auf seinen Rollschuhen über den Boden. Ein Uhrwerk und der Propeller auf seinem Rücken treiben ihn an. Groll kann sich das wertvolle Stück gerade noch schnappen, bevor es mit einem Stuhl zusammenstößt.

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Achtung Nostalgie! Kommt mit uns ins Spielzeugmuseum Freinsheim. (Music by ZARG – around the corner – https://thmatc.co/?l=F982404C)

5,50 Mark hat dieses Spielzeug gekostet, als die Firma Bing es 1910 in ihren Katalog aufnahm. Als Groll es rund 100 Jahre später erwirbt, zahlt er 7500 Euro. „Dafür muss man schon ein bisschen verrückt sein“, gibt er zu. 2011 hatten er und seine Frau Marion das Spielzeugmuseum im pfälzischen Freinsheim eröffnet: Ein verwinkeltes Häuschen, in dem Uwe Groll seine private Sammlung an historischem Spielzeug zeigt, während Marion Groll das darunter liegende, gemütliche Café betreibt. Es liegt mitten in der schönen Freinsheimer Altstadt mit ihren zahlreichen barocken Gebäuden. Die gut erhaltene Stadtmauer verläuft gleich nebenan.

Kleines Museum mit gemütlichem Café, mitten in der Freinsheimer Altstadt.

Hauptberuflich arbeitet Uwe Groll als Umweltberater. Im Museum ist er vor allem am Wochenende. Auf drei Etagen drängen sich dort Plüschtiere, Puppen, Steinbaukästen, Gesellschaftsspiele, Bücher und allerhand Blechspielzeug – vom Tretauto über Spielzeugeisenbahnen bis hin zum Miniatur-Bergwerk. Im Café im Erdgeschoss servieren die Grolls Eisbecher und Kuchen. Selbst hier sitzt ein Teddy auf einem Wandvorsprung und zieren Lokomotiven die Regale.

Über 2000 Exponate hat Uwe Groll mittlerweile gesammelt. Alle stammen von der Nürnberger Firma Bing. Die kannte er erst gar nicht, bis er 1996 auf einem Flohmarkt eine rote Aufziehlok entdeckte. Sie gefiel ihm sofort – aber 380 Mark? „Das war der erste lange Vortrag über Bing, den ich gehört habe“, erinnert er sich. „Mittlerweile halte ich die selbst.“ Der Inhalt lässt sich so zusammenfassen: 1864 übernehmen die Brüder Ignaz und Adolf Bing die Firma ihres Vaters. 40 Jahre später ist aus dem damaligen Kurzwarenhandel der (nach eigenen Angaben) größte Spielzeughersteller der Welt geworden. Auch Haushaltswaren produziert Bing. Bis die Weltwirtschaftskrise, die komplizierte Firmenstruktur und der aufkeimende Nationalsozialismus den jüdischen Unternehmern zum Verhängnis werden. 1932 müssen sie schließen. Heute kennt fast niemand mehr ihren Namen.

Die Spielsachen waren nie Phantasie, sondern immer von der Erwachsenenwelt inspiriert

Uwe Groll

Dabei kam die Firma ihrem Ziel recht nahe: „Alle Haushalts- und Spielwarengeschäfte auf der Welt aus einer Hand zu bedienen“, beschreibt Groll. Um das zu erreichen, sei Bing nicht zimperlich gewesen, kopierte etwa die Teddybären von Margarethe Steiff (samt Knopf im Ohr) und bewarb eigene Produkte mit den Worten „Imitation der Käthe Kruse-Puppen“. Das brachte dem Unternehmen zwar einige Gerichtsprozesse ein. Doch die Strategie ging auf: Stellte die Firma anfangs vor allem Luxusspielzeug her, fanden sich ihre Waren später in jedem Kaufhaus. In puncto Spielsachen war Bing ein Vollsortimenter.

Die rote Lok, die Groll einst auf dem Flohmarkt entdeckte, schenkte ihm schließlich seine Frau. Umgeben von zahlreichen anderen Eisenbahnen versteckt sie sich heute im ersten Stock des Museums. Besonders stolz ist Groll auf die Pariser Metro, die in der Mitte des Raums ihre Runden dreht: Ein Einzelstück, das wohl Anfang des 20. Jahrhunderts im Schaufenster eines Pariser Kaufhauses stand. Mit einem Kurbeldynamo lassen sich die drei Wagen antreiben und kreiseln dann surrend um den Eiffelturm – eine besondere Idee des Sammlers: „So lernen die Kinder, dass eine Eisenbahn Strom braucht.“ Auch die sogenannten Dampfmaschinen-Antriebsmodelle, die die Besucher:innen gleich am Museumseingang erwarten, erlebt man am besten in Aktion. Die Szenen – kaum größer als ein DIN-A5-Blatt – zeigen den Alltag vor über 100 Jahren: Der Schuster flickt Schuhe, der Schneider näht, während sein Geselle bügelt. Eine Dampfmaschine erweckt die Blechfiguren zum Leben. „Ein Freilichtmuseum ‚en miniature‘“, sagt Groll und schaut dem Schmied beim Hämmern zu.

Der Alltag vor über 100 Jahren – festgehalten in kleinen Szenen.

Mit Dampf, Strom oder durch ein Uhrwerk lassen sich viele der Bing-Spielzeuge in Bewegung versetzen. Im Museum kann Groll aber nur einen kleinen Teil vorführen. Einmal im Jahr lädt er deshalb zum Museumsfest immer im Herbst in den Von-Busch-Hof ein. Dann riecht es nach Spiritus und die Dampfmaschinen pfeifen. 600 der insgesamt 4000 Gäste, die das Spielzeugmuseum vor Corona jährlich empfing, kommen alleine zu dieser Veranstaltung – darunter viele andere Sammler. Am liebsten empfängt Groll Großeltern mit ihren Enkeln: „Die Kleinen können fragen, was sie wollen, und Oma und Opa können richtig was bieten. Das macht echt Spaß.“

Mitten im Museum dreht die Pariser Metro ihre Runden.

Auch international hat sich das Spielzeughaus mittlerweile einen Namen gemacht. So stießen eines Tages die Nachfahren der Gebrüder Bing auf Grolls Museum. 2017 besuchte die Enkelin des Firmengründers das Haus. Als 17-Jährige war sie mit einem Kindertransport nach England entkommen, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Als sie dem Sammler inmitten der Bing-Spielzeuge sagt, jetzt fühle sie sich mit Deutschland versöhnt, haben beide Tränen in den Augen.

Mit seinem Museum will Groll die Erinnerung an die Gebrüder Bing bewahren.

„Seitdem spüre ich den historischen Auftrag noch mehr“, sagt Groll, der die Erinnerung an die Gebrüder Bing bewahren will – auch, weil es in deren Heimatstadt Nürnberg niemand tue. Die Exponate sind für ihn ein Fenster in die Vergangenheit und zeugen davon, wie sehr alles Technische die Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts begeisterte. „Dabei waren die Spielsachen nie Phantasie, sondern immer von der Erwachsenenwelt inspiriert.“ Das veranschaulichen die Miniatur-Schwebebahn und die Laterna Magica ebenso wie das (funktionierende) Minibügeleisen oder der (ebenfalls funktionierende) Herd für Puppenmütter.

Die Wuppertaler Schwebebahn im Miniaturformat – inklusive Zirkuselefant Tuffi, der 1950 aus der schwebenden Bahn sprang.

Gefährlich? Durchaus, aber nicht ungewöhnlich. „Die Dampfmaschinen wurden mit Spiritus beheizt“, ruft Groll in Erinnerung. Als er zum ersten Mal eine in Betrieb nahm, war er ziemlich nervös: „Man hat Angst, sich zu verbrennen oder dass der Kessel explodiert. Aber das legt sich, je mehr man die Technik versteht.“ Selbst eine Röntgenröhre bot Bing einst an. Groll hätte wahnsinnig gerne eine für seine Sammlung. Nur vorführen würde er dieses besondere Stück wohl nicht.


www.spielzeugmuseum-freinsheim.de

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