Fernab von jedem Meer, an den Hängen des Odenwalds, schlossen sich 1989 acht Menschen zusammen, um Seemannslieder zu singen. Heute sind die Konzerte des Odenwälder Shanty Chors Bühnenshows zwischen Heimatgefühlen und Meeresbrise – und eigentlich immer ausverkauft.

Schon mit den ersten Akkordeonklängen kommt sie auf: Die Meeresbrise, die den Geruch von Salz und Algen mitbringt. Gemeinsam mit Gitarre und Mandoline setzen im Kopf auch die Rufe der Möwen ein. Und wenn der mehrstimmige Gesang beginnt, ist man längst dort: am Meer. Hört die Brandung, spürt den Wind. Und das mitten in der Keltensteinhalle im Weinheimer Ortsteil Rippenweier. Über 500 Kilometer von jeder Küste entfernt. Sehr viel weiter kann man in Europa nicht vom Meer entfernt sein.

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Zum 20-jährigen Jubiläum 2009 ging es für den Chor per B.E.M.B.E.L. durch die Galaxis.

Und dennoch schafft es der Odenwälder Shanty Chor, seine Zuhörer:innen mit wenigen Takten mitzunehmen an den Ort, von dem seine Lieder erzählen. An die See. Dorthin, wo Schann Scheid einst aus Fränkisch-Crumbach seine Heldentaten vollbrachte. Von ihm erzählt Manfred Maser, Texter und Erzähler des Odenwälder Shanty Chors, als die Frage aufkommt, warum ausgerechnet hier im Odenwald, wo höchstens Felsen Meere bilden, ein Chor die See besingt. Denn jener Schann Scheid segelte im 19. Jahrhundert über alle sieben Weltmeere, ging an vielen Küsten als erster Odenwälder an Land und gründete, als er nach 25 Jahren auf See in die Heimat zurückkehrte, einen Shanty Chor. „Belegt und bestens erforscht“, fügt Manfred Maser noch hinzu, „ist diese Geschichte durch Prof. Dr. Alfons Netwohr, den Leiter des Instituts für spekulative Heimatgeschichte mit Sitz in Fränkisch Crumbach.“

Prof. Dr. Alfons Netwohr spekuliert gerne – nicht nur, aber vor allem über Heimatgeschichte.

Während Manfred (auf See duzt man sich) mit würdevollem Ernst von Schann Scheid erzählt, sitzt Gabi Walther neben ihm und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Auch wenn sie die Geschichte natürlich schon oft gehört hat – schließlich ist Prof. Dr. Alfons Netwohr, der Manfred übrigens außergewöhnlich ähnlich sieht, Teil jedes Konzerts. Gabi war dabei, als der damals noch namenlose Chor gegründet wurde.

Seit Beginn an Bord: Gabi Walther und Manfred Maser.

Auch 1989 waren es weitgereiste Odenwälder, die mit Shantys im Gepäck in ihre Heimat zurückkehrten. Als Schreiner hatten die Brüder Arno und Thilo Spilger auf einem Segelschiff gearbeitet und überzeugten ihren Freund Matz Scheid, dass Seemannslieder auch in trockener Umgebung gut klingen. Andrea, die Schwester von Arno und Thilo, stieg mit ein – und damit war auch klar, dass dieser Shanty Chor kein reiner Männerverein bleiben sollte. Ein Kneipenwirt erzählte Gabi und drei Freundinnen damals von dem neuen Chor und „beackerte“ sie, doch mal zu einer Probe zu gehen. „Das war an einem Freitagabend“, erinnert sich Gabi. „Da hatte ich mir eigentlich etwas anderes vorgestellt, als in einem Wohnzimmer Seemannslieder zu singen.“ Mittlerweile tut sie es seit über 30 Jahren.

In der Keltensteinhalle sticht inzwischen das Kreuzfahrtschiff „La Traviata“ in See und mit ihm 23 Sänger:innen in ihr aktuelles Programm „Heute hier, morgen fort“. Bühnenbild, Kostüme, Licht, Lieder, Geschichten – alles ist aufeinander abgestimmt. Der Chor singt nicht einfach nur seine Lieder, er spielt und erzählt sie. Die Auftritte sind eine Mischung aus Konzert, Theater und Mundart-Kabarett. Als Prof. Dr. Alfons Netwohr teilt Manfred seine „löffelscharfen“ Beobachtungen gerne auf Ourewellerisch, im Odenwälder Dialekt.

Wir wollen einen Amateurchor bleiben – aber mit Niveau!

Gabi Walther

Alle zwei bis drei Jahre bringt der Chor ein neues Programm auf die Bühne – mit neuen Liedern, neuen Geschichten und neuen Erkenntnissen aus dem Institut für spekulative Heimatgeschichte. Aber auch mit Figuren, Sprüchen und Insiderwitzen, die bei keinem Auftritt fehlen dürfen und auf die das Publikum, scheinbar allesamt Stammgäste, schon sehnsüchtig wartet. Wenn Manfred Maser von Schann Scheid erzählt, muss er gar nicht mehr erwähnen, woher dieser kommt – das „Fränkisch-Crumbach“ schallt ihm bereits aus dem Publikum entgegen. So hat man selbst als Shanty-Chor-Neuling in einer vollbesetzten Halle das Gefühl, nun einer verschworenen Gemeinschaft anzugehören.

Manche Fans lassen sich kein Konzert des Chors entgehen.

Weniger Woche nach der Gründung stößt Manfred zum Chor. Und verpasst ihm nicht nur einen Gründungsmythos, sondern vor allem die ersten abendfüllende Programme. Der Chor wächst und mit ihm die Ansprüche. Die Arrangements von Matz Scheid werden immer ausgefeilter, die Musiker:innen professioneller, die Geschichten wilder und die Hallen größer. 1992 bekommt der Chor endlich einen Namen: Odenwälder Shanty Chor – „da hätte man durchaus schon früher draufkommen können“, kommentiert Manfred. Im gleichen Jahr entsteht die erste CD „Kleine Fische“, weitere folgen. 2007 und 2010 bekommt der Chor für seine Aufnahmen den „Preis der Deutschen Schallplatten-Kritik“. Dennoch war immer klar: „Wir wollen einen Amateurchor bleiben“, sagt Gabi. „Aber eben mit Niveau.“ Einmal in der Woche proben die Sänger:innen in der Alten Schule in Großsachsen, die Zahl der Konzerte halten sie bewusst klein. Zehn bis zwölf sind es in einem Jahr – doch die sind eigentlich immer ausverkauft.

Vor einem Meer an Zuschauern singt der Chor von der See.

2023 übernahm Valentin Moosmann die Leitung des Chores von Matz Scheidt. Dass er als gebürtiger Schwarzwälder mal einen Seemannschor im Odenwald leitet – „das war nicht wirklich vorgesehen“, erzählt er und lacht. Valentin hat in Mannheim Musik auf Lehramt studiert, absolviert gerade sein Referendariat und ist deutlich jünger als die meisten Sänger:innen. Denn die Verjüngung des Chors geht nur schleppend voran. „Die Alten wollen alle nicht gehen“, sagt Manfred und zeigt mit gespielter Empörung auf Werner Schneider, der heute seinen 71. Geburtstag feiert. „Ich sing, bis mir mein Körper was anderes sagt!“, sagt dieser und steigt die Treppe zur Bühne hinauf. Aufhören will hier niemand, sie sind alle über Jahrzehnte zusammengewachsen und zusammen gewachsen.

Seit 2023 leitet Valentin Moosmann (links) den Chor, in dem viele bereits seit drei Jahrzehnten mitsingen.

Dabei steht der Nachwuchs schon bereit. Beim Soundcheck vor dem Konzert sitzt der elfjährige Mattis auf der letzten Kante seines Stuhls, singt jedes Lied lautstark mit und trommelt dabei auf die Rücklehne des Stuhls vor ihm. „Ich muss 14 sein, damit ich abends mit auf die Bühne darf“, erzählt er. So wie sein Vater Sascha, der im Chor singt und Gitarre spielt. „Und wenn du dann 14 bist, hast du bestimmt ganz andere Sachen im Kopf“, wirft Gabi ein. Mattis schaut sie entrüstet an und schleudert ihr ein lautes „Neee!“ entgegen.

Zusammengewachsen: Der Chor ist nicht nur auf der Bühne eine Gemeinschaft.

Auf der „La Traviata“ herrscht mittlerweile Flaute und der Chor besingt das, in dem aus der „Road to Nowhere“ von den Talking Heads das „Boat to Nowhere“ wird. Es sind nicht nur klassische Shantys, die der Chor auf die Bühne bringt. Auch Folk- und Rocksongs sind dabei, mal im Original, mal ourewellerisch umgedichtet. Es gibt Eigenkompositionen und Volkslieder aus der ganzen Welt. Wie heute ein Lied der Wolof, einem afrikanischen Volk, das Manfred vor allem deshalb begeistert, weil die Sprache Wörter kennt, die durchaus vertraut klingen. Dann singt also ein Seemannschor aus dem Odenwald, begleitet von einer irischen Trommel, ein Lied in afrikanischer Sprache über „Monnem“ und „Woi“.

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Fernweh ahoi! Mit einem Werk von Manfred Maser und Matz Scheid.

www.shantychor.de

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