Von Königinnen und Anne Frank

Nur 46 Quadratmeter groß ist das ehemalige Spritzenhaus der Freiwilligen Feuerwehr im Alten Rathaus in Heidelberg-Handschuhsheim. Wer es durch den Eingang in der Mittleren Kirchgasse betritt, stößt das Tor auf zu einem Füllhaltermuseum. Und damit zu einer Welt voller fantastischer Geschichten.

Das Gästebuch allein könnte 1000 Geschichten erzählen: Es ist gefüllt mit Texten und Gedichten in vielen Sprachen. Asiatische, arabische oder russische Schriftzeichen wechseln sich ab mit kleinen, begeisterten Botschaften in Kinderschrift. Alle geschrieben mit all den vielen Füllern, die Thomas Neureither seinen Gästen zur Verfügung stellt. Denn schreiben ist in seinem Museum in Heidelberg ausdrücklich erwünscht: Viele der ausgestellten Stücke dürfen ausprobiert werden. Staunend lässt man sich die geniale physikalische Idee hinter den auslaufsicheren Federn an übergroßen Modellen erklären oder taucht angespitzte Vogelfedern in fantasievoll geformte, wunderschön lackierte Tintendöschen.

Ausprobieren ist im Füllhaltermuseum ausdrücklich erlaubt – auch das Schreiben mit einer Vogelfeder.

Das Museum zieht Besucher aller Altersklassen und aus der ganzen Welt an. Zu Gast war bereits der weltberühmte Autor Bernhard Schlink. Mittendrin in der Sammlung steht Thomas Neureither, der das Museum gegründet hat. 2016 hatte ihm der Stadtteilverein Handschuhsheim die eigens dafür renovierte Halle zur Verfügung gestellt. Seither zeigt er in seinem „Fülli“ seine private, außergewöhnliche Sammlung: Ein schier unerschöpflicher Schatz an Füllfederhaltern, Federkielen, Tintenflaschen und -fässern, eine vollständig erhaltene Werkstatt mit Werkzeugen, Drehbänken und einer Guillochiermaschine zur Herstellung und Reparatur von Füllern sowie eine umfassende, nahezu lückenlose Dokumentation über die Region Heidelberg mit ihren einst rund 40 Betrieben als jahrzehntelanges Zentrum der europäischen Füllhalter- und Federproduktion.

Dazu erzählt Thomas Neureither unzählige Geschichten. Über das Füllhaltermodell Perkeo zum Beispiel, das seinen Namen dem Pendant im Heidelberger Schloss verdankt: „Beide haben ein riesiges Füllvermögen.“ Eher betroffen machen kleine schwarze „Kriegsfüller“ aus billigem Material, die während des Zweiten Weltkrieges aus Mangel an Rohstoffen hergestellt wurden. In diese Zeit fällt auch die Geschichte über den verlorenen Füller von Anne Frank, über den sie in ihrem Tagebuch schrieb: „Mein Füllhalter war immer ein kostbarer Besitz.“ Wie er verschwand, konnte sie nie klären. Nach dem Krieg dann entstanden ganz besondere Exemplare mit Namen wie Elégance oder Monterosa, Farben und Mustern waren scheinbar keine Grenzen gesetzt. Das kleinste Modell ist ein nur wenige Zentimeter großer, mit floralen Gravuren versehener Teleskop-Eintauchfüller für die Damenhandtasche. Ein weiterer winziger, knallbunter Frauenfüller wurde in einer Box zusammen mit einem kleinen lilafarbenen Tintenfässchen verkauft.

Andere Modelle wirken eher klobig und liegen schwer in der Hand. Ein kurzer, handlicher und mit  Ledermäppchen und Plakette versehener Sportfüller wurde extra für die Olympiade 1972 in München produziert. „Ihn würde ich gerne Königin Silvia von Schweden präsentieren, wenn sie mal vorbeikommt.“ Die gebürtige Heidelbergerin hatte ihren Mann, den König, dort kennengelernt. Auch über die Schreibkultur amerikanischer Präsidenten weiß Thomas Neureither zu berichten. So habe Barack Obama wichtige Dokumente mit Füllfederhaltern unterschrieben, die er dann für wohltätige Zwecke versteigern ließ.

Egal, wie wertvoll, selten oder alt die Ausstellungsstücke sind: Für Thomas Neureither bleiben sie Gebrauchsgegenstände und dürfen benutzt werden.

Schulklassen begeistert er mit einem eigens zusammengestellten Programm besonders gerne für die Geschichte des Schreibens. Dafür schlüpft er in das Kostüm eines Steinzeitmenschen oder eines Römers und demonstriert, wie Farbe und antike Schreibgeräte hergestellt wurden. Unterstützt wird er dabei von seiner Schwester Ulrike Falk, einer ehemaligen Lehrerin. Was vor allem die kleinen Besucher:innen zu schätzen wissen: Egal, wie wertvoll, selten oder alt die Ausstellungsstücke sind: Für Thomas Neureither bleiben sie Gebrauchsgegenstände und dürfen benutzt werden. Dazu stehen Tische und eine alte Schulbank mit eingelassenem Tintenfass zur Verfügung.

Bei Sammler:innen wohl am wertvollsten ist eine Art Deco-Tinten-Füllflasche in Form eines Pinguins. Für Thomas Neureither sind die Stücke aber vor allem dann von Wert, wenn sie ein weiteres Puzzleteil zur möglichst lückenlosen Dokumentation der Geschichte der Füllfederhalter beitragen. Fotos, Dokumente, Originalpatente oder Werbemarken zur Bedeutung der Heidelberger Füllhalter- und Federproduktion und zu  Herstellern aus Heidelberg oder dem Landkreis wie Luxor, Faber Castell, Kaweco oder Lamy hat Thomas Neureither auf Flohmärkten gekauft. Einiges kam aus Nachlässen hierher oder aus Archiven – alles auf fundierter, wissenschaftlicher Basis. Einige Exponate stammen aus seiner eigenen Familie. Denn sowohl sein Großvater Valentin als auch der Vater arbeiteten für die Heidelberger Federhalterfabrik Kaweco, Anfang des 20. Jahrhunderts mit rund 1.200 Mitarbeitern die größte Füllhalterfabrik Europas und nach eigenen Aussagen Produzent der „besten Füllfederhalter der Welt“.

Wertvolles Stück: Ein tintengefüllter Pinguin.

Nach dem Konkurs des Unternehmens 1929 machte sich Neureithers Großvater selbständig, wie in einem ausgestellten Empfehlungsschreiben an potentielle Kund:innen nachzulesen ist. Die Originalmaschinen aus seiner Werkstatt blieben erhalten, sind ebenfalls im Füllhaltermuseum zu sehen und voll funktionsfähig. „Damit könnte ich jederzeit Füllfederhalter herstellen, prägen, aber auch reparieren.“

Alt, aber voll funktionsfähig: Originalmaschinen aus der Werkstatt von Neureithers Großvater.

Selbstverständlich nutzt Thomas Neureither selbst einen Füller: Seinen Pelikan M 250 in dunkelblau aus den 1980er Jahren mit Goldfeder trägt er stets bei sich. Denn Füller sind durchaus zeitgemäß, auch Nachhaltigkeit ist für den weltweit anerkannten Experten stets ein Thema. Als Alternative zu Plastik-Wegwerfpatronen präsentiert er komfortable Nachfüllsysteme. Und überhaupt: „Füller halten sich über Generationen.“


www.fuellhaltermuseum.de

Das Füllhaltermuseum in der Dossenheimer Landstraße 5 in Heidelberg-Handschuhsheim ist an jedem zweiten und vierten Sonntag im Monat von 15 bis 17 Uhr oder nach Vereinbarung geöffnet. Der Eintritt ist frei. Für Veranstaltungen für Schüler der Klassen zwei bis vier fällt ein Materialaufwand von einem Euro pro Kind an.

Das Museum ist barrierefrei über die Mittlere Kirchgasse zugänglich.

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