Er war der bekannteste Mundartdichter der „Faschenacht“ – und Jude: Bis heute gehören die Lieder von Jacob Mayer zum kollektiven Gedächtnis der Stadt Buchen. Eine Spurensuche im Odenwald.

Einer unter vielen. Und doch haben ihn die Autoren auf dem schwarz-weißen Titelbild ihres Buches anders, in einem hellen Beigeton, eingefärbt. Im Frühjahr 1930 zieht der Elferrat beim Fasnachtsumzug durch Buchen. Mit Zylindern, Papierblumen und Narrenkappen. Ein fröhliches Treiben auf einer alten Fotografie. Auf der allerdings einer optisch herausfällt: Jacob Mayer (1866-1939) steht zwar mitten in der Menge und doch nur dabei. Denn wenig später wird seine Ausgrenzung als Jude beginnen – aus dem Elferrat. Aus den Vereinen. Aus der Gesellschaft. Und der Stadt.

In der Bücherei des Judentums: Tobias-Jan Kohler (links) und Hermann Schmerbeck.

Tobias-Jan Kohler hat das denkwürdige Buch, das Gerlinde Trunk und Jürgen Strein über den Buchener Mundartdichter herausgebracht haben, an diesem Morgen mit in die Bücherei des Judentums gebracht. Natürlich gehört es längst zu den Sammlungsbeständen. „Aber Mayers tragische Geschichte ist heute vielleicht die bekannteste jüdische in unserer Stadt“, sagt der Stadtarchivar, der mit Ehrenamtlichen eine außergewöhnliche Erinnerungskultur pflegt: In der Kleinstadt im Neckar-Odenwald-Kreis gibt es nicht nur eine unterirdische Gedenkstätte im Gewölbe der einstigen Synagoge, sondern eben auch jene kleine, feine jüdische Fachbibliothek. Und, wenige Kilometer weiter, einen der eindrucksvollsten jüdischen Friedhöfe der Metropolregion Rhein-Neckar – Orte, die allesamt mit dem Schicksal Jacob Mayers verbunden sind.

Das Klösterle in Buchen. Im Sakralraum (vorne im Bild) finden oft Konzerte statt. Im hinteren Bereich ist die Bücherei des Judentums untergebracht.

Nur wenige Schritte von dem heute noch stattlichen Wohn- und Geschäftshaus der Kaufmannsfamilie Mayer an der Ecke Judengässlein/Marktstraße wartet jeden Donnerstagnachmittag Hermann Schmerbeck oder ein anderer Ehrenamtler an der Ausleihe des ehemaligen Beginenklösterles auf Besucher: Seit 1998 der Pfarrer Herbert Duffner seine private Bibliothek über das Judentum in eine Stiftung gab, ist aus dem historischen, roten Sandsteingebäude der Stadt ein Ort des Austauschs und der Erinnerung geworden. Regelmäßig gibt es in den schlichten Leseräumen in der Obergasse 6 Vorträge und Gespräche. Immer wieder sind Judaistik-Stipendiaten zu Gast, um für einige Wochen einer wissenschaftlichen Fragestellung nachzugehen.

Von außen erinnert die Bücherei mit ihren tiefen Fensterlaibungen und der alten Eingangstür noch immer stark an das einstige Kloster. Im Innern kommen die Leseräume eher funktional daher. Eine Ausnahme ist der Sakralraum der einstigen Frauengemeinschaft, den heute vor allem die Buchener Musikschule für Konzerte und Proben nutzt. In der kleinen Apsis mit seinen freskobemalten Chornischen treten aber auch Klezmer-Gruppen auf – dann auf Einladung der Bücherei.

„Pfarrer Duffner hat gezielt gesammelt, aber nicht immer systematisch.“

Rund 9000 Bücher, dazu Dias und CDs werden in der Bücherei verliehen, die Hermann Schmerbeck mit einigen Bürgern und der Braunschweiger Judaistin Rebekka Denz viele Wochenenden lang aufbereitet hat, auch, um einen professionellen Online-Katalog anzulegen. „Pfarrer Duffner hat gezielt gesammelt, aus einem intellektuellem Interesse heraus, aber nicht immer systematisch“, sagt Schmerbeck, der sofort zur Stelle war, als Ende der 90er Jahre eine ehrenamtliche Leitung für die jüdische Bibliothek gesucht wurde. „Damals stand bei mir gerade der Ruhestand an, da war ich froh, mich in ein neues Aufgabengebiet stürzen zu können.“

Die jüdische Geschichte der Stadt Buchen reicht bis ins Mittelalter zurück – Hermann Schmerbeck zeigt die historische Entwicklung.

Heute reicht das Spektrum der Bücherei von wissenschaftlichen Aufsätzen über theologische Grundsatzfragen bis zu Koch- und Fotobänden rund um das Judentum. „Ich habe als Kind in der Progromnacht die Möbel aus den Fenstern jüdischer Familien fliegen sehen“, erinnert sich der ehemalige Leiter der Buchener Stadtbücherei, der 1934 in Karlsruhe zur Welt kam, dann in Mannheim aufwuchs, ehe sein Vater 1945 die Bürgermeisterstelle der Stadt Buchen übernahm – und die Familie im Odenwald ein neues Zuhause fand. Die Bilder von damals aus der Mannheimer Augartenstraße habe er nie vergessen. Auch nicht die der jüdischen Männer und Frauen, die aufgereiht an der Mannheimer Schlossmauer standen – 1940, um auf ihren Abtransport in das französische Internierungslager Gurs zu warten. „So etwas darf nie wieder geschehen.“

Während Hermann Schmerbeck offiziell die Bücherei des Judentums leitet, führt Tobias Kohler als Stadtarchivar die Geschäfte der Bücherei-Stiftung. Sie ist für Veranstaltungen, Neuanschaffungen und besondere Projekte zuständig – wie zuletzt für die Restaurierung eines Leichenwagens, den die jüdische Gemeinde für den Bezirksfriedhof in Bödigheim im Jahr 1911 hatte bauen lassen. Wie nahezu alle jüdischen Friedhöfe im Land (unseren Text über den jüdischen Friedhof in Worms lesen Sie hier) liegt auch dieser hinter einer verschlossenen Eisengittertür verborgen. Wem sie sich öffnet, bekommt einen der schönsten Orte des Neckar-Odenwald-Kreises zu sehen: Über 1500 Gräber gibt es hier, aneinandergereiht auf einem sanft hügeligen Waldstück. Viele jahrhundertealt, moosbewachsen, der Welt entrückt. „Der älteste Grabstein stammt von 1628“, sagt Tobias-Jan Kohler, der, Jahrgang 1988, in Düsseldorf Geschichte studierte, ehe er in seine Heimat, in den Odenwald zurückgekehrt ist, um das Buchener Archiv zu übernehmen. 

Hermann Schmerbeck und Tobias-Jan Kohler auf dem Weg zur jüdischen Trauerhalle auf dem Friedhof in Bödigheim.

„Mit Hilfe alter Glasplattenaufnahmen des Fotografen Karl Weiß wird inzwischen versucht, vielen Namen jüdischer Bürger, die während der NS-Diktatur aus Buchen flüchteten, deportiert oder ermordet wurden, ein Gesicht zurückzugeben“, sagt der Historiker (die Bilder sind online hier einsehbar). Die jüdische Gemeinde in Buchen reiche bis 1337 zurück. Kohler vermutet, dass auch das Bödigheimer Gräberfeld schon im Mittelalter angelegt wurde. Zeitweise war es der Verbandsfriedhof für bis zu 20 Gemeinden – 1932 nutzten ihn nur noch zehn. 

Die Geschichte des Bödigheimer Friedhofs reicht nachweislich bis ins 14. Jahrhundert zurück.

Und Jacob Mayer? „Er hätte sich nie vorstellen können, an einem anderen Ort als in Buchen zu leben“, sagt Hermann Schmerbeck, während er in den hinteren, in den älteren Teil des Bödigheimer Friedhofs führt. Die Mutter des Heimatdichters ist hier begraben – und Jacob Mayer auch. Hier war er sozusagen inoffiziell nach seinem Freitod im Juni 1939 bestattet worden. Das letzte Begräbnis in Bödigheim. Denn heute leben in Buchen keine Juden mehr. Auch eine Inschrift, die an Mayer erinnern könnte, trägt der Grabstein bis heute nicht.

Der Grabstein von Henriette Mayer, der Mutter des Buchener Mundartdichters Jacob Mayer.

Dennoch hat der Mundartdichter seine Spuren hinterlassen: In einem der beiden Lesesäle der jüdischen Bücherei haben sich drei kleine Vitrinen aus Mayers Kaufmannsladen erhalten. Dort, wo einst die Buchener Synagoge stand, wurden die unterirdischen Reste des Judenbads, der Mikwe, freigelegt und ein Mahnmal an die Opfer der NS-Diktatur errichtet. Der Platz darüber trägt Jacob Mayers Namen, genauso wie ein Weg und eine Grundschule in Buchen. 

Hermann Schmerbeck zeigt die Gedenktafeln, auf denen die Namen von Opern der NS-Diktatur eingraviert sind.

Wenige Meter weiter betreibt die Fasnachtsgesellschaft Narhalla ihr kunterbuntes Narrenhaus, dessen liebste Hymne längst zum kollektiven Gedächtnis des Ortes gehört. Zu hören ist sie immer wieder auch vom Stadtturm aus – dreimal am Tag spielt dort das Glockengeläut auch Jacob Mayers bekanntestes Fasnachtslied. „Kerl wach uff, vergeß Dei’ Plog’ / Vergess Dei’ Not und Sorgen! Denk’ daß heut ein froher Tag, Und vergiß das Morgen! Denk, daß einmal nur im Jahr / Uns die Gnad’ gegeben / Überschäumend, toll, als Narren / Fastnacht zu erleben.“


Gerlinde Trunks und Jürgen Streins Buch über Jacob Mayer gibt es im Web-Shop der Stadt Buchen:

https://shop.buchen.de/top-produkte/jacob-mayer.html

www.buecherei-des-judentums.de

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