Wasserfräulein und Hexenmüller, weiße Frauen und grüne Jäger – der Kleine Odenwald ist eine sagenhafte Gegend. Miriam und Peter Seisler haben sich auf die Suche nach alten Erzählungen rund um ihre Heimat Schönbrunn gemacht und mehr gefunden, als sie dachten. Nun wollen sie dafür sorgen, dass sie nicht wieder in Vergessenheit geraten.

Wer mit Miriam und Peter Seisler durch den Kleinen Odenwald geht, bekommt schnell mystische Gesellschaft. Vom Poppele etwa, das noch nie jemand gesehen hat – aber gehört. Denn wenn es hier im Wald unterwegs ist, klingt es, als würde jemand einen Stock zwischen die Speichen eines Rades halten. „Tock. Tock. Tock.“ Peter Seisler bleibt stehen und lauscht in den Wald hinein. Unter den Füßen knistert Laub, vereinzelt hängen Nebelschwaden zwischen den Bäumen und von den Blättern tröpfelt noch der Regen vom Morgen. Ein Tocken ist nicht zu hören. Aber überrascht hätte es niemanden. Denn das Ehepaar erzählt mit so viel Leidenschaft, mit so viel Wärme von den mythischen Figuren ihrer Heimat, als würden sie jede dieser Gestalten persönlich kennen.

Ein Ort der Stille – und geheimnisvoller Geschichten: Miriam und Peter Seisler am Kirchl.

Sie stehen am Kirchl, einer spätgotischen Wallfahrtskapelle, nicht weit von Schönbrunn. Früher führte hier der Höhenweg von Eberbach nach Aglasterhausen. Heute steht die kleine Kapelle mitten im Wald, zwischen Eichen und kleinen Tannen. Für Miriam Seisler ist es ein Kraftort, ein Ort an dem sie aufladen kann. „Das Kirchl strahlt für mich so viel Stille aus, dass ich hier immer zur Ruhe komme – egal wie stressig der Alltag gerade ist.“ Der Ort war nicht immer christlich. Miriam und Peter Seisler sind überzeugt, dass sich hier schon vor Urzeiten Menschen getroffen haben, um Heilige oder Gottheiten zu verehren – bevor die Kirche eine Kapelle „draufgesetzt“ hat. Solche sagenumwobenen Kraftorte gibt es überall im Odenwald. Und die Seislers sind mittlerweile Experten darin, diese Stätten und ihre Geschichten aufzuspüren.

Das Ehepaar teilt die Begeisterung für Geschichte – und Geschichten.

Die Begeisterung für Geschichte hat das Ehepaar zusammengebracht. Kennengelernt haben sie sich im Karfunkel-Verlag, der die gleichnamige „Zeitschrift für erlebbare Geschichte“ herausbringt. Hier war Miriam Seisler Redaktionssekretärin und Peter absolvierte ein Volontariat. Warum er sich ausgerechnet für so einen speziellen Verlag entschieden hat? Seine Frau lacht. „Weil er eben auch speziell ist.“ Peter Seisler grinst. Das Mittelalter, Rollenspiele, Fantastisches und Mystisches haben ihn schon immer fasziniert. Heute wohnen sie mit drei Kindern, einem Hund und einer Katze in einem alten, holzknarzenden Bauernhaus im Schönbrunner Ortsteil Schwanheim. Nicht weit von dem Dorf entfernt, in dem Miriam Seisler aufgewachsen ist: Allemühl.

„Wir waren mit unseren Kindern früher immer draußen unterwegs. Im Wald oder haben eine der vielen Burgen besucht, die sich im Neckartal aneinander schnüren“, erzählt Miriam Seisler. Um die Ausflüge auch für ihre Kinder interessant zu machen, recherchierte sie vorher immer die Geschichte der Burgen und ihr Mann trug sie dann vor Ort vor. „Die Minneburg, Burg Stolzeneck – wir haben sie alle besucht. Je abenteuerlicher der Weg dorthin, je verfallener die Ruinen, desto besser.“ Bei ihren Recherchen stieß Miriam Seisler auch auf die sagenumwobene Burg Hundheim bei Neckarhausen. „Ich dachte dann – häh?, die gibt’s doch gar nicht“, erzählt sie. Die Familie sammelte weitere Hinweise und machte sich mit alten Karten auf die Suche. „Wir haben dann erstmal eine Horde Wildschweine aufgescheucht“, erzählt Peter Seisler und lacht. Gefunden haben sie die alte Burg schließlich, mitten im Wald. „Also das, was davon übrig war.“

„Ich wollte die Geschichten meiner Heimat festhalten“

Spätestens da war ihr Forscherdrang geweckt. Zuhause stapelten sich bereits alte Bücher und Karten. Miriam Seisler zeigt einige davon. Ein alter Bildband des Odenwalds, ein Buch mit hessischen Sagen von 1853, ein Werk, in dem ein Hobbyhistoriker in selbstgemalten Karten die Odenwälder Mittwintergestalten eingezeichnet und penibel festgehalten hat, in welchem Dorf welche Figur früher die Geschenke gebracht hat. „Unglaublich, oder?“, sagt sie leise und streicht über die alten, vergilbten Seiten. Die meisten Bücher hat sie online aufgestöbert, im Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher, viele davon sind Einzelstücke. „Unser Trüffelschwein“, sagt Peter Seisler und lacht. Doch je mehr sie recherchierte, je mehr Sagen und Geschichten sie sammelte, desto bewusster wurde ihr, dass es einen „blinden Fleck“ gibt. „Für unsere Heimat, für den Kleinen Odenwald, konnten wir kein eigenes Sagenbuch finden.“

Miriam Seisler findet in Antiquariaten oft Raritäten – wie dieses Buch über Odenwälder Mittwintergestalten mit handgezeichneten Karten.

Sie beschlossen, dass das nicht so bleiben kann. „Es ist ja doch oft so. Viele Menschen denken vor allem an den hessischen Teil, wenn sie an den Odenwald denken. Der badische Teil geht oft etwas unter“, sagt Miriam Seisler. „Aber ich fühle mich als Odenwälderin und wollte die Geschichten meiner Heimat festhalten.“ Sie fing an, in alten Büchern gezielt nach Sagen aus dem kleinen Odenwald zu suchen – und fand überraschend viele. „Am Ende waren es 25 Geschichten allein für unsere kleine Gemeinde hier.“

Waldweg zu Steinhäuschen

Einige davon kannte sie auch aus den Erzählungen ihres Vaters und ihres Großvaters. „Mein Opa hat mich immer ermahnt, ja nicht zu spät nach Hause zu kommen, weil mich sonst der Nachtkrabb holt. Das war so eine Schreckgestalt für Kinder.“ Er erzählte auch vom Hexenmüller, der früher in Allemühl das Wild verhexte, damit er es besser schießen konnte. Miriam Seisler fand auch zahlreiche Sagen über weiße und hilfreiche Frauen, wie die freundlichen Wasserfräulein von Aglasterhausen, die im Badbrunnen lebten und hart arbeitenden Männern auch mal einen Kuchen backten. Gemeinsam schrieben sie die Geschichten auf und so entstand schließlich das Buch „Zauber, Spuk und Wasserfräulein“, das sie im Selbstverlag veröffentlichten. „Und das is eingeschlagen wie `ne Bombe hier“, sagt Miriam Seisler. „Fand ich subba!“

Kein „blinder Fleck“ mehr: Dank den Seisler hat der kleine Odenwald nun ebenfalls ein eigenes Sagenbuch.

Schnell entstand die Idee zu einem zweiten Buch. Zu einem Thema, das Miriam Seisler als „Herzensangelegenheit“ bezeichnet: Frauensagen aus dem Odenwald. „Es gab früher so viele starke Frauengestalten, Göttinnen und Priesterinnen. Gute Wesen, die verehrt und vergöttert wurden – bis die Kirche kam und diese Frauen verteufelte und zu bösen, hinterlistigen Figuren machte.“ Sie wollte den Frauen „ihre“ Geschichten zurückgeben. Mit ihrem Mann reiste sie kreuz und quer durch den Odenwald, auf der Suche nach Frauenkraftorten. Sie zeigt einige Bilder, moosüberwucherte Brunnen, geheimnisvolle Quellen. Preisgeben will sie die Orte nicht, um sie vor zu vielen Besuchern zu schützen. „Die Orte findet der, der sie finden soll“, sagt Miriam Seisler etwas trotzig. „Und das geht nur über die Geschichten – und nicht über eine Karte oder Instagram.“

Peter Seisler führte früher als Nachtwächter durch Heidelberg – und trägt heute die Geschichten vor, die seine Frau ausgräbt.

Peter Seisler berichtet von den vielen „Aha“-Erlebnissen, die sie während der Recherchen haben. „Man findet in den Geschichten so viele Elemente, die man auch aus anderen Kulturkreisen kennt. In keltischen Erzählungen oder in der nordischen Mythologie. Da gibt es so viele Verbindungen – es hängt alles zusammen.“ Auch deshalb findet er es so wichtig, die Geschichten zu sammeln und festzuhalten. „Die Sagen erden einen, sie erzählen so viel von unseren Wurzeln und verbinden uns auch mit der Lebenswelt der Menschen, die früher hier gelebt haben.“ Ein drittes Buch ist bereits in Arbeit. Über die Rauh- und Weihenächte im Odenwald. „Wir machen das auch für unsere Kinder“, sagt Miriam Seisler. „Wir wollen die Geschichten bewahren und weitergeben. Wenn wir sie nicht aufschreiben und behüten, dann gehen sie verloren – und das wäre ein unheimlicher Verlust.“


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