Ein kleines Museum in der Heidelberger Innenstadt hat eine große Aufgabe. Mit der einzigartigen Sammlung Prinzhorn möchte Leiter Thomas Röske Berührungsängste nehmen – er zeigt Kunst von Menschen mit Psychiatrieerfahrungen.
Auf der Wiese vor dem Heidelberger Altklinikum in Bergheim schwebt eine Figur im Sonnenlicht. Ist es ein Junge, ist es ein Mann? An den Händen scheint er Stelzen zu haben, die ihm helfen, sich in die Luft zu schwingen. Er weist den Weg in die Sammlung Prinzhorn, ein kleines Museum mit einem großen Reichtum an ganz besonderen Kunstwerken.
Aquarelle und Briefe, Gemälde und Skulpturen, Textilien oder Texte: Manche von ihnen sollen den Weltfrieden aufrechterhalten, andere sind Zahlungsmittel in einer anderen Realität. Hier, mitten in der Heidelberger Innenstadt, lagert eine weltweit einzigartige Sammlung an Kunstwerken von Patienten psychiatrischer Einrichtungen und Menschen mit psychischen Ausnahmeerfahrungen.
Die Geschichte dieser Sammlung ist ähnlich bewegend wie die in ihr enthaltenen Lebensgeschichten. In den 1920er Jahren kam der junge Hans Prinzhorn, selbst Psychiater und Kunsthistoriker, als Assistenzarzt an die psychiatrische Klinik in Heidelberg. Sein Auftrag: Er sollte aus einer bestehenden Lehrsammlung von Patientenkunst eine größere Sammlung aufbauen. Was ihm gelang. Rund 5000 Werke häufte er an und veröffentlichte mit seiner „Bildnerei der Geisteskranken“ ein epochemachendes Buch. Doch es folgten dunkle Momente. Rund 100 Werke nahmen die Nationalsozialisten mit auf ihre Wanderausstellung der Entarteten Kunst. Der Rest der Sammlung Prinzhorn blieb verschlossen, wurde nach dem Krieg vergessen. Später lagerte sie lange Zeit auf dem Dachboden des Hauptgebäudes der Klinik, ehe sie ab 1963 wieder in nationalen und internationalen Ausstellungen gezeigt wurde. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde dann der Hörsaal der Neurologie umgebaut. Das Museum Sammlung Prinzhorn entstand – als Teil der Klinik für Allgemeine Psychiatrie. Seit 2001 hat sie hier ihr festes Zuhause. Und somit auch ihr Leiter Dr. Thomas Röske.
Das Museum ist Teil der Klinik für Allgemeine Psychiatrie in Heidelberg.
"Der Luftgänger" ist Wegweiser und Logogeber.
Seit die Sammlung ein festes Zuhause hat, ist Thomas Röske ihr Leiter.
Er hat über Hans Prinzhorn promoviert.
Als "Wiedergutmachung" sieht Röske die Arbeit des Museums.
Blickt man auf seine akademische Laufbahn zurück, führten alle Wege – von Hamburg über Frankfurt nach London – hierher in die „Provinz“, wie er es liebevoll nennt. Bereits als 18-jähriger Schüler hatte Röske die bislang größte Wanderausstellung der Sammlung in Hamburg besucht. Das war Anfang der 80er Jahre. Während die Heidelberger Sammlung weiter durch Europa wanderte und stetig wuchs, wurde er nach dem Studium der Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Psychologie promoviert. Seine Doktorarbeit widmete sich der Ästhetik und Psychotherapie bei Hans Prinzhorn – dem Namensgeber und Grundsteinleger der heutigen Sammlung. Seinen ersten Arbeitstag in dem neugestalteten Museum Prinzhorn hatte er zwei Tage nach dem elften September 2001 – ein Datum, das die westliche Welt zutiefst verrücken sollte.
„Ich sehe unsere Arbeit hier auch zum Teil als Wiedergutmachung, indem man diesen Leuten ihre Stimme zurückgibt.“
Thomas Röske
Heute erwarten die Betrachter bereits im Foyer einnehmende Werke. Etwa Reihen an deckenhoch aufgestapelten Einmachgläsern. Bei näherem Begutachten entschlüsselt sich der bunte Inhalt zu einem vertraut anmutenden Sammelsurium aus Alltagsgegenständen und Erinnerungsstücken. Handschriftliche Notizen, Haare, Tablettenblister. Aber auch Fahrkarten, kleine Spielfiguren, Rollfilme. Ein Jahr im Leben der Künstlerin Nicole Guiraud, konserviert in 117 Gläsern. Entstanden in einer depressiven Phase, wurden sie zu, wie Röske es nennt, „Selbstrettungsobjekten“.
Eine kleine Treppe emporsteigend, öffnen sich nach rechts Räume, die mit wechselnden Ausstellungen bestückt werden. Auf der gegenüberliegenden Seite geht es in die Dauerausstellung. „Von Irrenkunst zu Outsider Art“ ist sie benannt und zeigt rund 120 Werke aus psychiatrischem Kontext von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute.
Empfangen wird man direkt von einem wohlbekannten Anblick. Auf einem gerahmten Stück Pappe festgehalten, schwebt der „Luftgänger“, der Logogeber der Sammlung. Gemalt wurde er von dem Tapezierer Josef Forster um 1916. Das mit seinem pastosen Farbauftrag impressionistisch anmutende Gemälde gibt Raum für zahlreiche Interpretationsansätze. Und ist für Thomas Röske eines der liebsten Stücke in der Sammlung. Denn nur durch die Krankenakten lässt sich das Selbstporträt als „Mann ohne Schwerkraft“ entschlüsseln, der mit Gewichten an die Erde gebunden werden muss.
Heute kommen Menschen aus der ganzen Welt, um in Heidelberg Stücke wie dieses zu studieren. Doch nicht nur auf Kunst-Enthusiast:innen, Mediziner:innen und Therapeut:innen üben die Exponate eine Faszination aus. Immer wieder ließen sich andere Kunstschaffende inspirieren. Von Ernst Ludwig Kirchner bis Georg Baselitz reagierten Künstler auf diese oft als besonders „rein“ oder „ursprünglich“ empfundenen Werke.
Manches hier ist raumgreifend wie eine ganze Wand voller Aktenordner von Harald Bender. Hinter den bunten Rücken befinden sich Hunderte symbolischer Zeichnungen, die den Zusammenhang zwischen Atom und Eisprung erforschen; alle feinsäuberlich in Klarsichtfolien geordnet. Der handgeschriebene Brief an den Ehemann von Emma Hauck hingegen lädt zum genauen Hinsehen ein. Es sind humorvolle Arbeiten und sehr berührende. Auch durch den Kontext, in dem sie entstanden.
In der Ausstellung werden die Werke ohne Diagnosen oder Einordnungen gezeigt. So können die Besucher:innen ihre eigene Interpretation finden. En passant lernen sie nicht nur die ausgestellten Werke kennen, sondern auch die Geschichte der Psychiatrie im deutschsprachigen Raum. Während nach der Jahrhundertwende viele in der Irrenanstalt untergebracht waren, verweilten wohlbetuchte Patient:innen in Sanatorien. Die einen malten auf Toilettenpapier, die anderen konnten sich Ölfarben und Leinwand leisten. Der Wahnsinn der Zweiklassenmedizin – in der Dauerausstellung sind solche Exponate bewusst gegenüber gehängt.
Und auch Deutschlands düstere Kapitel finden eindringlich Raum. Medizinische Verbrechen der Nazi-Zeit aus Patientensicht hielt Wilhelm Werner in seinen Bleistift-Zeichnungen fest. Eine Drehung um die eigene Achse und der Blick fällt auf ein buntes Ölgemälde von Sonja Gerstner. Drei Mal war sie in der DDR in der geschlossenen Psychiatrie. Am Ende blieb ihr nur die „Flucht in die Wolken“. Ihre Mutter Sybille Gerstner brach mit dem gleichnamigen Buch das laute Schweigen, dass um psychische Krankheiten und ihre Behandlung hinter der Mauer herrschte.
„Die Schicksale und der Umgang mit manchen Patienten empören mich“, erklärt Thomas Röske. „Ich sehe unsere Arbeit hier auch zum Teil als Wiedergutmachung, indem man diesen Leuten ihre Stimme zurückgibt.“ Um Wertschätzung geht es dem Leiter und seinem Team. Sie erweisen diesen Insassen und Patient:innen eine Ehre als Künstler. Um das in noch größerem Rahmen realisieren zu können, soll ein Erweiterungsbau folgen. Doch wann das genau passiert, ist noch unklar. „Vermutlich übergebe ich die Schlüssel zum Neubau an meine Nachfolge, wenn ich in die Pension eintrete“, kommentiert Thomas Röske mit einem Augenzwinkern.
Doch bis es in ein paar Jahren so weit ist mit der Rente, hat er noch viel vor. Etwa ein Buch über den Künstler und Uhrmacher Heinrich Herrmann Mebes zu schreiben. Etwas, das sich schon Hans Prinzhorn damals vorgenommen hatte und nie zu Ende führen konnte.
Ausflugstipps und interessante Geschichten über die Rhein-Neckar-Region gibt es regelmäßig in unserem Newsletter.
Und so geht’s: Geben Sie Ihre E-Mail Adresse in das Feld ein und klicken Sie auf abonnieren. Sie erhalten daraufhin eine automatisch generierte Nachricht an die von Ihnen genannte E-Mail Adresse, die Sie nur noch bestätigen müssen. Fertig!