Martin Weinbrecht liebt Holz – vor allem, wenn es sich rasend schnell dreht und er es nach seinem Willen formen kann. Sein Wissen gibt er in der Drechselstube in Neckarsteinach weiter. Um von ihm zu lernen, wie sich ein Stück Holz in eine Schale oder einen Kerzenhalter verwandelt, reisen Teilnehmende auch mal aus Island an.
Noch ist nur leises Schnarchen zu hören in dem dunklen Raum. Fahles Licht scheint auf eine Drechselbank, schon halb vergraben unter Bergen an Holzspänen – aus denen das Schnarchen dringt. Dann betritt ein Mann den Raum. Mit grauen Haaren und grauem Bart, blaukariertem Hemd und Brille auf der Nase. Er spannt ein Stück Holz in die Drechselbank, das sogleich zu rotierend beginnt. Mit einem Drechseleisen berührt der Mann das drehende Holz. Es knattert. Rillen entstehen, Späne fliegen – und das Schnarchen hört auf. Dann ist ein verärgertes und sehr müdes kleines Männchen zu sehen, das in den nächsten Minuten allerlei Werkzeug verschwinden lässt. Praktisch, dass es dabei auch selbst unsichtbar bleibt.
Kommt Ihnen irgendwie bekannt vor die Szene? Nein, sie stammt nicht aus „Meister Eder und sein Pumuckl“. Der Film heißt „Neulich in der Drechselwerkstatt“, die Hauptdarsteller sind Martin Weinbrecht und die von ihm kreierte Comicfigur Doc Drexler. Den Film hat sich Martin – in der Werkstatt duzt man sich – selbst geschenkt. 2017, zum 25. Geburtstag seiner Drechselstube. Auf die Ähnlichkeiten mit den bekannten Filmfiguren angesprochen, schmunzelt Weinbrecht nur. Und auch seine Werkstatt hat einiges von der urigen Gemütlichkeit der Schreinerei von Meister Eder.
1990 fanden hier in Neckarsteinach, am Hang des Burgbergs, zwischen Neckar und Odenwald, die ersten Drechselkurse statt. Ein Hobby zunächst. Martin Weinbrecht arbeitete damals als Arbeitserzieher im Reha-Zentrum Neckargemünd, der heutigen Stephen-Hawking-Schule. Doch sein Angebot sprach sich schnell herum, die Anfragen häuften sich, die Kurse waren über Monate ausgebucht und Weinbrecht beschloss, aus dem Hobby einen Beruf zu machen.
Für die Kurse in der Drechselwerkstatt reisen Teilnehmer:innen auch mal aus dem Ausland an.
Mit viel Geduld erklärt Martin Weinbrecht sein Handwerk.
Das Kursziel – nicht nur vor Weihnachten – selbstgedrechselte Kerzenhalter.
Alle Teilnehmenden bekommen arbeiten an ihrer eigenen Drechselbank.
Wie liegen die Holzfasern?
Schritt für Schritt zeigt Martin, wie es geht.
Und auch unsere Autorin versucht sich am Drechseln.
Heute steht ein Einsteigerkurs an. 11 Teilnehmende sind zu dem zweitägigen Seminar angereist. Teils aus der Region, teils von weit her. Josef etwa kam extra aus der Aargau nach Neckarsteinach. „Ich habe schon in der Schweiz einen Kurs besucht – aber der war lange nicht so gut.“ Jedes Jahr, berichtet Martin, kommt auch eine Gruppe aus Island ins Neckartal. „Die buchen immer einen zweitätigen Kurs, verbringen ein paar Tage in der Region und fliegen dann wieder zurück.“ Männer und Frauen, 14-Jährige und 78-Jährige, Gärtner:innen und Programmierer, Menschen aus Heidelberg und Hamburg – die Kurse sind immer bunt gemischt. Auch Menschen mit einer Behinderung können bei Martin drechseln lernen.
Während draußen der erste Schnee des Jahres die Tannen auf dem Burgberg pudert, haben sich alle drinnen um die Drechselbank in der Mitte der Werkstatt versammelt. Zwei Kerzenhalter stehen auf dem Holztisch. Einen, in Kegelform, haben die Teilnehmenden schon gestern gedrechselt. Heute machen sie einen Teelichthalter. Martin beugt sich über die Drechselbank, spannt einen Holzklotz ein und versetzt ihn per Knopfdruck in Rotation. „Ich zeige euch jetzt den Engelshaarschnitt“, sagt er mit tiefer, ruhiger Stimme. „Hier dürft ihr nicht mit Kraft arbeiten, eure Knöchel dürfen nicht weiß werden. Macht es mit Gefühl – als wollt ihr das Holz nur streicheln.“ Er setzt das Drechseleisen sanft auf das Holz. Surrend lösen sich die ersten Späne, die sich zu feinen Locken kräuseln. Engelshaar eben.
„Drechseln hat nichts mit Schreinern zu tun“, erklärt Martin später. „Das sind zwei unterschiedliche Handwerke.“ Sie haben nur eine Gemeinsamkeit – den Werkstoff. Und Holz liebte Martin schon als Kind. Nach der Schule entschied er sich für eine Schreinerausbildung. Doch er hatte noch eine zweite Leidenschaft – die See. Martin ist in Flensburg aufgewachsen, seine Familie hatte ein Segelboot. „Ich fand segeln sehr viel spannender als Schule.“ Jede freie Minute verbrachte er als Teenager auf der Ostsee und träumte davon, Kapitän zu werden. Er verwirklichte seinen Traum, fing eine zweite Ausbildung an, fuhr das erste Mal auf See – und kehrte ernüchtert zurück. „Mit meinem Traum hatte das Leben auf einen Frachtschiff so gar nichts zu tun.“ Während seine Kameraden Karten spielten und tranken, saß er in seiner Kabine und strickte. „Ich passte da einfach nicht rein.“
Seine Freundin lebte damals in Freiburg. Als er zurückkehrte, hielt er einen Brief von ihr in den Händen, in dem sie die Beziehung beendete. Martin beschloss, in den Süden zu fahren und zu retten, was zu retten ist. „Aber da war nichts mehr zu retten.“ Doch es gefiel ihm in Freiburg, er knüpfte Kontakte zu Studierenden und zur Friedensbewegung. Er bliebt und fing als Hausmeister eines Studierendenwohnheims an. In dessen Keller durfte er sich eine Werkstatt einrichten. „Ich wollte an meinen Lehrberuf anknüpfen und etwas kreatives machen“. Er machte Kinderspielzeug und verkaufte es auf Märkten. Nur die Räder der Autos bekam er nie so hin, wie er sie haben wollte. Er ging zu einem Drechsler und schaute zu, wie er aus einem Stück Holz eine Kugel formte. „Ich stand daneben und dachte nur: Das will ich lernen.“ Er lernte es. Doch er merkte schnell, dass er von seinem Holzspielzeug nicht leben konnte.
Noch einmal beschloss er, sich umzuorientieren. „Ich wollte etwas tun, bei dem ich mit Holz und Menschen zu tun habe.“ Er fragte beim Arbeitsamt, ob es so einen Beruf gäbe. Dort riet man ihm, Arbeitserzieher zu werden, für die Ausbildung zog er nach Heidelberg. Bei seinem ersten Praktikum in einer Psychiatrie lernte er seine heutige Frau Anke kennen, die ebenfalls dort arbeitete. Zusammen kauften sie das Haus am Burgberg – und bauten später auch gemeinsam die Drechselstube auf. Mittlerweile arbeitet dort ein vierköpfiges Team. Neben Martin übernehmen inzwischen auch Dirk Bastian und Markus Peuser einige Kurse. Es gibt allgemeine Seminare für Einsteiger:innen und Fortgeschrittene sowie Themenkurse, in denen die Teilnehmenden Kugelschreiber oder Pfeffermühlen drechseln.
Alle drei verbindet die ruhige Art und die große Geduld, mit der sie auch Menschen, die meist den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen, ihr Handwerk erklären. Und die soziale Ader. Im Frühjahr wird Dirk wieder nach Nepal fliegen. Er war schon einmal da und hat gemeinsam mit der Nepal Youth Foundation geholfen, eine Werkstatt aufzubauen – die Ausstattung spendete die Drechselstube. Nun wird er den Auszubildenden dort zeigen, wie sie Pfeffermühlen drechseln, die sie anschließend verkaufen können.
„Ach ne, jetzt hab ich da nen Nürnberger reingehauen“, sagt Jens und blickt auf die tiefe Kerbe in dem Holzstück, das mal ein Teelichthalter werden will. Nürnberger nennen die Drechsler ihre Fehler – die Stadt war früher eine Hochburg der Kunstdrechsler. Und Fehler sind eben schnell passiert, wenn ein Holzstück mit über 2000 Umdrehungen pro Minute rotiert. Martin ist sofort bei ihm, legt den Kopf schräg. „Nee, das ist eine Verzierung! Mach einfach noch eine zweite Kerbe rein.“ Drechseln, das lernen die Teilnehmenden schnell, ist eine ständige Balance: zwischen ausreichend Kraft und dem notwendigem Gefühl. Aber wenn sich dann mit einem Werkzeugansatz aus einem Holzstück nach und nach ein rundes Teelicht schält, ist das vor allem: ein herrliches Gefühl.
Mit den Jahren hat Martin Weinbrecht viel Wissen angehäuft...
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