Über 70 Mühlen standen einst in Heppenheim. Sie haben über Jahrhunderte eine ganze Region mit gemahlenem Korn versorgt, aber auch Öl erzeugt oder Holz gesägt. Ein Rundgang mit Hermann Müller durch die Stadt gleicht einer Schnitzeljagd – doch hier weisen Mühleisen den Weg.

Zielstrebig geht Hermann Müller auf das Heppenheimer Rathaus zu. Es ist nicht das schöne  Barockfachwerk, das ihn hierherzieht, auch nicht das berühmte Glockenspiel. Der Grund, warum er mit großen Schritten auf das Gebäude zumarschiert, ist viel unauffälliger, viel kleiner – und wird von vielen Heppenheimern wohl seit Jahrhunderten übersehen. Müller geht ein paar Stufen zum Eingang des Rathauses hinauf und beugt sich zum Fenster auf der rechten Seite. Er deutet auf die Fensterlaibung. Dort, in den Sandstein geritzt: Zeichen und Zahlen. Nur wer genau hinschaut erkennt eine Brezel, ein Mühleisen und die Jahreszahl 1609. Die Zeichen der Bäcker- und Müllerzunft, verewigt im Stein.

Kleine Hinweise auf eine große Vergangenheit: Die Zeichen der Bäcker- und Müllerzunft, verewigt am Heppenheimer Rathaus.

Müller? In Heppenheim? So reagierte auch Hermann Müller, als er 2011 den ersten Hinweis auf die Heppenheimer Mühlengeschichte entdeckte. Es ist natürlich kein Zufall, dass er ausgerechnet Müller heißt. „Ich bin in der Pfalz aufgewachsen, Familien- und Heimatforschung ist eine Leidenschaft von mir“, erzählt er. Als Müller in seiner Familiengeschichte immer weiter zurückging, entdeckte er auch einige Berufsmüller. Dabei, sagt er und schmunzelt, hießen ausgerechnet diese nicht Müller. Eines Tages blätterte er durch die Pfälzer Mühlendatenbank, auf der Suche nach Hinweisen zu seinen Vorfahren. Doch stattdessen fand er den Namen der Stadt, in der er damals schon seit fast 30 Jahren lebte: Heppenheim.

Hermann Müller ist seit 2011 äußerst hartnäckig auf den Spuren der Müller in Heppenhim.

„Das hat mich total erstaunt. Jetzt lebte ich schon so lange in der Stadt, aber dass es hier einmal Mühlen gab – das war mir völlig neu.“ Der Hinweis weckte seine Neugier, er wühlte sich durch Archive, studierte Karten und Grundbücher. Müller zieht ein Din A4-Blatt aus seiner Tasche, darauf hat er die Ergebnisse seiner Forschung bis Juli 2020 kurz und knapp aufgelistet: 62 Wassermühlen an 5 Bächen im Stadtgebiet, 4 Mühlen mit anderem Antrieb. „Eine davon soll sogar von Hunden angetrieben worden sein“, erzählt er. Und erst vor zwei Monaten fand er heraus, dass es auch eine Dampfmühle gab. Hinzu kommen sieben weitere, von denen Müller bisher nicht weiß, wie sie angetrieben wurden. Und noch einige Mühlen mehr, die er jedoch noch nicht verorten konnte.

„Dass es so viele sind, hat mich wirklich überrascht und ist für eine so kleine Stadt auch außergewöhnlich. Aber noch mehr hat mich überrascht, dass diese Geschichte in Heppenheim fast vollkommen in Vergessenheit geraten war.“ Er wollte das ändern und setzte sich mit dem Geschichtsverein und den Altstadtfreunden dafür ein, die mühlenreiche Vergangenheit sichtbar zu machen. Bei der Stadt stieß er damit auf offene Ohren und seit 2014 führt nun der Mühlenrundweg quer durch die Stadt und durch 800 Jahre Mühlengeschichte. Wer sich auf seine Spuren begibt, findet überall in der Stadt kleine Hinweise – und lernt Heppenheim von einer ganz neuen Seite kennen.

„Diese Geschichte ist in Heppenheim fast vollkommen in Vergessenheit geraten“

Zum Beispiel am Kleinen Markt. Einem Platz, den es nur gibt, weil die große Stadtmühle, die hier einst stand, 1969 abgerissen wurde. „Das war ein Riesenklotz, ein mächtiges Gebäude und eine der bedeutendsten Mühlen in Heppenheim“, erzählt Müller. Der Protest der Bevölkerung, die den eindrucksvollen Bau erhalten wollte, verhallte ungehört. Geblieben ist ihr eine Andeutung, eingelassen in den Boden. Zwischen den Pflastersteinen des Kleinen Marktes ahmen große Flusssteine einen Bachlauf nach.

Nur ein angedeuteter Bachlauf weist heute noch auf die einst beeindruckende Stadtmühle hin.

Oder zwischen den Fachwerkhäusern der Altstadt. Einer der Scherenschnitte von Albert Völkl, die zahlreiche Straßenlaternen zieren, zeigt den Weißen Mann. Einen Geist, der gerne in Müllersgestalt nachts durch die Straßen zog und Spaß daran hatte, Frauen unauffällig mit Mehl zu bestäuben. „Eine beliebte Ausrede, wenn junge Frauen am nächsten Morgen Mehlflecken an ungewöhnlichen Körperstellen hatten.“ Hermann Müller grinst.

Der Hobbyhistoriker war es auch, der herausfand, dass die Zeichen im Wappen der Familie von der Hees, das noch heute das Eingangsportal der Schlossschule ziert, Mühleisen sind. Er zeigt eine frühere Version des Wappens, die er vor einigen Jahren am Schloss Junkernhees im Siegerland entdeckte. „Hier sind sie deutlich zu erkennen“, sagt er und deutet auf die weißen Symbole. Er lächelt leise und man kann sich gut vorstellen, wie er sich gefühlt hat, als er das Bild zum ersten Mal sah und sich das bestätigte, was er viele Jahre vermutete.

In der alten Version des Wappens der Familie von der Hees sind die Mühleisen links gut erkennbar.

Müller arbeitete früher als Elektroingenieur. Die Mühlen sind für ihn reines Hobby – ein sehr zeitintensives Hobby.  Jeden Tag beschäftigt er sich mehrere Stunden damit. Er arbeite auch an einer Dokumentation, über 1.000 Seiten habe sie schon. „Aber ich habe immer das Gefühl, es fehlt noch was – ich finde ja auch jede Woche etwas Neues heraus.“ Jedem einzelnen Hinweis jagt er hinterher. „Ich bin schon hartnäckig“, gibt er zu. „Manchmal vielleicht etwas zu hartnäckig.“

Verwunschener Weg: Der ehemalige Mühlgraben.

Auf der anderen Seite der Siegfriedstraße geht Müller kurz hinter der Hausnummer 30, der früheren Weihersmühle, einige Meter den Schlossberg hoch. Parallel zur Straße führt hier eine Grünschneiße den Berg entlang. „Das war früher der Mühlgraben“, erzählt Müller. Schon vor 1480 trieb der kleine Stadtbach über diesen Graben gleich drei Mühlen an: Die Weihersmühle, die Schäfermühle und die Tugersmühle. „Manche Heppenheimer Senioren erzählen noch immer mit Begeisterung davon, wie sie als Kinder hier gespielt und gebadet haben.“

2014 hat die Stadt ein Teilstück des Grabens wieder freilegen lassen. Entstanden ist ein verwunschener Weg mit einigen alten Steinbrücken und einer schönen Aussicht auf die Pfarrkirche St. Peter. Idyllisch ist der Mühlenrundweg auch dort, wo der Stadtbach noch sichtbar ist. Nur einige Meter vom Autolärm der Siegfriedstraße entfernt, rauscht er etwa als Wasserfall über ein altes Mühlwehr. Hier wurde das Wasser früher gestaut, um die zwei Wasserräder der Schneidmühle anzutreiben.

Das Wasser, das heute über das Mühlwehr rauscht, hat früher die zwei Wasserräder der Schneidmühle angetrieben.

Mitten im Mühlgraben ist Beate Weis gerade dabei, einige Büsche zu stutzen. Sie wohnt in der Schindersburg, dem ehemaligen Wohnhaus eines wohlhabenden Müllers, das aufwendig saniert wurde. Sie hilft dabei, den Mühlgraben zu pflegen. In einem angrenzenden Gartenstück würde die Landschaftspflegerin gerne alte Getreidesorten pflanzen. „Emmer, Urkorn – was früher in den Mühlen tatsächlich gemahlen wurde.“

Beate Weis wohnt in der Schindersburg und hilft, den Mühlgraben zu pflegen.

Gerade recherchiert sie auch, welche Kleidung die Heppenheimer Müller früher trugen. Ein Lehr- und Bewegungspfad für Kinder „Vom Korn bis zum Brot“ schweben ihr und Hermann Müller hier am alten Mühlgraben vor. Wann diese Idee Wirklichkeit werden könnte, das können sie allerdings noch nicht sagen. Manche Mühlen mahlen eben etwas langsamer – aber schließlich ist es das Ergebnis, das zählt.


Der Mühlenrundweg auf der Homepage der Stadt Heppenheim

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