Michael „Mitsch“ Schreiner reist im Rollstuhl um die Welt. Und er pilgert. Nicht, um zu Gott oder sich selbst zu finden. Sondern, um Wege für Menschen mit Handicap auszuloten. Die Geschichte einer besonderen Begegnung auf einem besonderen Weg an der hessischen Bergstraße.

Mitsch Schreiner sitzt im Rollstuhl vor seinem geöffneten Kofferraum auf dem Bahnhofsparkplatz in Bensheim-Auerbach. Er zieht sich seinen Hut auf und schnallt seinen schwarzen Rucksack um. An einer grünen Schnur hängt eine Pilgermuschel. Hier, an der hessischen Bergstraße, führt der Camino Incluso 84 Kilometer über den Vorderen Odenwald bis nach Heidelberg, als Zubringer zum pfälzischen Jakobsweg. Der „Weg für alle“ ist ein Projekt von Schülern der SRH Stephen-Hawking-Schule in Neckargemünd. „Wir wollten pilgern, um aus dem Alltag auszubrechen“, sagt Lehrerin Claudia Hanko, die das Projekt mit einer ihrer Klassen anstieß. Doch ihre Reise veränderte die Schüler und die Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegneten: den Pfarrer, der sie auf dem Boden seiner Kirche schlafen ließ oder den Bürgermeister, dessen Dorfgemeinde immer älter wird. „Alle fühlten sich wie neu belebt“, sagt Hanko. Und so erwuchs aus der Reise der Gruppe die Idee, aus ihrem Projekt etwas zu machen, das bleibt. 

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Der Camino Incluso – ein Weg für alle.

Mitsch Schreiner schließt den Kofferraum seines Bullis, in dem sich Kartons mit der vierten Auflage seiner Broschüre „Südwestpfalz barrierefrei“ befinden. Und: neue Dubbegläser – ein Mitbringsel für Bernd Loreth, der ihn auf seinem Tagesausflug begleitet. Denn auf einigen Streckenabschnitten wird Mitsch Schreiner Hilfe benötigen. „Ich bin der Zivi“, sagt Loreth und lacht. Die beiden Freunde kennen sich fast ihr gesamtes Leben. Sie sind gemeinsam im pfälzischen Dahn aufgewachsen, zusammen zur Schule gegangen, in den Turnverein, haben gemeinsam in einer WG gewohnt. Mit 22 Jahren, vor vier Jahrzehnten, wollten sie über Frankreich nach San Sebastian im Baskenland trampen, „auf einen Kaffee“. Ihre Reise endete an einem Baum im Elsass. Seitdem ist Mitsch Schreiner querschnittsgelähmt.

Ein gelber Pilgerbeutel weist Schreiner und Loreth den Weg, der sich vom Auerbacher Bahnhof durch den Ort über das Fürstenlager und am Felsenmeer vorbei nach Beedenkirchen schlängelt, wo die erste von insgesamt sechs Etappen endet. Am Evangelischen Gemeindezentrum stoppt Schreiner. „Eines der ganz wichtigen Kriterien für barrierefreies Reisen sind die Toiletten“, sagt der Behindertenberater der Verbandsgemeinde Dahner Felsenland, die er bei Bausitzungen berät oder für die er Wege testet.

„Unsere Schüler haben auf dem Camino Incluso gelernt, dass man etwas zurückbekommt, wenn man etwas gibt“

Claudia Hanko

Das Camino-Team, zu dem im Laufe der Jahre zwei weitere Klassen dazu gestoßen sind, hat detaillierte Beschreibungen der Etappen verfasst. Unzählige Male sind sie den Weg abgelaufen, mit dem Handbike und Aktivrollstuhl abgefahren, haben in „schönen und einfachen“ rollstuhlgerechten Unterkünften übernachtet, den barrierefreien Bahnhof in Bensheim-Auerbach für ihre Anreise genutzt und die Niederflurbusse, die auf den Straßen entlang des Camino Incluso unterwegs sind. Sie haben eine Übersicht der barrierefreien und rollstuhlgerechten Toiletten erstellt. Und wollen diese Infos gebündelt auf einer Homepage veröffentlichen, die spätestens zur Eröffnung des Weges online sein soll. Auch Outdoor-Plattformen und Apps wollen sie damit bestücken – am 15. Oktober 2021 wird der „Camino“ offiziell eröffnet.

Liebevolle Begrüßung der rollenden und wandernden Pilger.

Mitsch Schreiner verlässt das Evangelische Gemeindezentrum im Auerbacher Zentrum und bleibt am Eingang stehen. Der Pilgerbeutel, das Symbol des Weges, ziert einen Postkasten neben der Tür. Darin: ein Stempel und Stempelkissen. Pilger können dafür bei der Stephen-Hawking-Schule einen Pilgerpass bestellen, den Claudia Hanko ihnen dann zuschickt. Daneben lehnen Flyer zum Weg, liebevoll gefaltet, beidseitig bedruckt, auch in einfacher Sprache. Und: ein Büchlein mit Grüßen von Menschen, die den Weg bereits gegangen sind. Mitsch Schreiner schnappt sich einen Stift. „So, was schreiben wir denn?“, fragt der Südpfälzer, der deutschlandweit zu den erfahrensten Reisenden im Rollstuhl gehören dürfte. 2020 hat er für den Band „Pilgern für alle – von Worms nach Lauterbourg“ 120 Kilometer Wegstrecke, Unterkünfte, Einkehrmöglichkeiten getestet und beschrieben. „Schreib‘ doch: Kein Weg ist zu weit, mit einem Pfälzer an der Seit“, sagt Loreth. Beide Männer lachen. Wie so oft auf ihrer Tour. Schreiner und Loreth verbindet ein starkes Band. Und viele Erinnerungen. Etwa an ihren Ausflug ins Wallis, wo ihnen der Koch einer Mittelstation den Lastenaufzug als Fortbewegungsmittel anbot, um weiter nach oben zu gelangen. Anfang der 80er Jahre war Schreiner erstmals alleine im Rollstuhl verreist. „Ich hatte eine Doku über die USA gesehen, bin am nächsten Tag ins Reisebüro gegangen und habe meinen Flug gebucht.“

Mitsch Schreiner war schon auf der ganzen Welt unterwegs – das Reisen im Rollstuhl bedarf jedoch „einiger Planung“.

Auf dem Campus der kalifornischen Universität von Berkeley mietete er sich ein Zimmer – und blieb neun Monate. Er bereiste Australien und Neuseeland. Länder, die in Sachen Barrierefreiheit ähnlich gut aufgestellt sind wie die USA – und dabei meist weit über europäischen Standards liegen. Mitsch Schreiner war aber auch in weiten Teilen Südamerikas und Asiens unterwegs. „Das bedarf natürlich einiger Planung.“ Inzwischen sei er so gut vernetzt, dass er Katheter und andere wichtige Dinge an eine „Base“ auf dem jeweiligen Kontinent schicke, um vor Ort bestmöglich ausgestattet zu sein.

An einigen Stellen des Wegs muss Bernd Loreth mit anpacken.

Die Männer schieben sich weiter durch den Ort, der Weg wird steiler. „Und Einsatz“, sagt Mitsch Schreiner grinsend. Bernd Loreth packt mit an und hilft seinem Freund die Steigung hinauf. „Ich habe mir nach dem Unfall geschworen: Wenn der Junge irgendwohin will, dann werde ich ihn zur Not dorthin tragen.“ Loreth hielt Wort. Mit anderen Freunden hievte er Mitsch Schreiner wenige Monate nach dem Unfall auf die Anhöhen des Dahner Felsenlands. Ein Video davon hat Loreth auf dem Smartphone in seiner Hosentasche gespeichert.

„Unsere Schüler haben auf dem Camino Incluso gelernt, dass man etwas zurückbekommt, wenn man etwas gibt“, sagt Hanko. Die Idee, einen „Weg für alle“ aus bestehenden Wegen zusammen zu basteln, habe ungeheure Kräfte in der Region mobilisiert. Weil es am evangelischen Gemeindezentrum in Winterkasten, einem Ortsteil von Lindenfels, an einer barrierefreien Toilette mangelte, organisierte die Gemeinde zur Finanzierung ein Benefizkonzert. Die evangelische Gemeinde in Beedenkirchen (Lautertal) ließ einen Tresor aufstellen, in dem sich ein Schlüssel zur Kirche und zu den barrierefreien Toiletten befindet, an den man über einen Anruf bei der Kirchengemeinde kommt.

Der Weg für alle mobilisiert viele in der Region.

Die Männer passieren die Schranke zum Staatspark Fürstenlager. Einen elektrischen Rollstuhl besitzt Schreiner nicht, nur seinen handbetriebenen Rolli und ein Handbike. „Mir ist es wichtig, meinen Körper gesund zu halten, Kraft in den Händen und Armen zu haben, deshalb habe ich jahrelang Rollstuhlbasketball gespielt“, sagt Schreiner und lächelt. Er schaffte es in einer Saison zum Topscorer in der Landesliga – eine besondere Leistung für jemanden mit seiner Behinderung.

Mitsch Schreiner: Rollstuhlbasketballer, Nationaltrainer und Weltenbummler.

2005 wurde er Berater der philippinischen Rollstuhlbasketballer – nach einer Begegnung in Manila, wo Mitsch Schreiner jährlich „überwintert“, um ehrenamtlich in einer Berufsschule mitzuhelfen. 2009 trainierte er die thailändische Nationalmannschaft und holte mit ihr die Goldmedaille bei den Asean Games in Kuala Lumpur. „Wer weiß, ob ich all das als Nicht-Behinderter geschafft hätte.“

Lustwandeln im Fürstenlager – auch im Rollstuhl möglich.

Loreth schnauft. Die Freunde sehen sich im Fürstenlager um – die reinste Hommage an das Lustwandeln des 18. Jahrhunderts. Pappel-Alleen, knirschender Kies, plätschernde Quellen. Ein Hochzeitspaar posiert für einen Fotografen. Vor dem Herrenhaus machen sie Rast. Mitsch Schreiner lässt den Blick schweifen. „Schön hier“, sagt er anerkennend. Die Schönheit von Orten allen zugänglich machen – das ist es, was ihn antreibt. Nahezu pausenlos. Schreiner lächelt. „Wo geht es weiter?“, fragt er und sucht den Park nach dem nächsten gelben Pilgerbeutel ab. Einem kraftvollen Symbol.


Claudia Hanko freut sich über Fragen und Anregungen zum „Camino Incluso“, gern per Mail an pilgerweg.shs@srh.de

Erste Infos zum Camino Incluso gibt es hier:

www.bergstrasse-odenwald.de

www.weitwanderungen.de

www.stephenhawkingschule.de

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