Schon Hape Kerkeling oder Paulo Coelho sind nach Santiago de Compostela gelaufen: Pilgern ist in – doch in Speyer eine uralte Sache. Wer wüsste das besser als Hans Ammerich, der im Bistumsarchiv nach Spuren der religiösen Wanderer suchte.

Es gibt Menschen, die haben Lieblingsbücher, Lieblingsfilme, Lieblingspullover. Aber so etwas wie eine Lieblingsurkunde? Hans Ammerich strahlt, als ihm ein Kollege den schlichten, braunen Karton aus dem Archivschrank reicht. Kaum hat er das Schriftstück hervorgezogen, wird es fast feierlich im nüchternen Zweckbau des Bistums Speyer: Der ehemalige Archivleiter hat eine Urkunde von Ludwig dem Bayer (1282-1347) entdeckt, in der der Herrscher die Besitztümer der sogenannten Stuhlbrüder in Mutterstadt regelte. Er lächelt, als er die eng geschwungene alte Handschrift entschlüsselt und den guten Zustand des über 700 Jahre alten Siegels prüft. „Die frommen Männer beteten für das Seelenheil der im Dom begrabenen Könige, Kaiser und Kaiserinnen“, erklärt Ammerich. Dafür bekamen sie Ländereien zugeteilt, von deren Ertrag sie lebten.

Historiker aus Leidenschaft: Hans Ammerich.

Keine Frage – der Mann ist Historiker aus Leidenschaft. Und sein ehemaliger Arbeitsplatz, das Speyerer Bistumsarchiv, so etwas wie das Gedächtnis der katholischen Kirche in der Pfalz. Wertvolle Pergamenthandschriften lagern hier wie das „Speyerer Missale“ von 1343, Kirchenbücher, päpstliche Bullen, aber auch Nachlässe, Akten, Kirchenbücher, Fotos. Hans Ammerich ist Jahrgang 1949 und hat das Archiv 35 Jahre lang geleitet. Eines seiner Forschungsprojekte? Die Jakobspilger in der Pfalz. Ein Trendthema schon vor Jahrzehnten, als die Recherchen begannen. Allerdings eines, dessen Geschichte bis heute fortgeschrieben wird. Denn jährlich wandern nach Schätzungen des Pilger-Büros in Santiago de Compostela rund 300.000 Menschen auf dem Jakobsweg – allerdings gibt es nur Zahlen für den spanischen Teil der Route.

Dass seit jeher auch die Pfalz Teil der Strecke ist, war für Hans Ammerich immer klar: „Als Grenzregion waren hier die Handels- und Heerwege sehr gut ausgebaut und für die Pilger einigermaßen sicher.“ Zudem reihen sich noch heute Burgen an Kirchen und Klöster in der Region – alles Anziehungspunkte für die Reisenden, die hier Schutz, Unterkunft, Verpflegung oder spirituelle Orte zur stillen Einkehr und zum Gebet suchten. Auf Wunsch des Politikers Rainer Rund und des damaligen Bischofs Anton Schlembach hatte Ammerich Ende der 1990er Jahre mit seiner Kollegin Susanne Rieß-Stumm begonnen, die alten Wege ausfindig zu machen – dass der damalige Regierungspräsident Rund auch noch langjähriger Vorsitzender des Pfälzerwald-Vereins war, half sicherlich: Noch heute werden die Wege mit ihren charakteristischen Muschel-Markierungen von den Mitgliedern gepflegt. Die Muscheln sind das Symbol aller Jakobspilger –und zugleich der Verweis auf den Schutzpatron aller Wanderer Jakobus.

„Viele Quellen zu den Wegführungen gab es aber leider nicht“, sagt der Historiker. Alte Pilgerberichte aus der Pfalz? Konkrete Routenbeschreibungen der letzten Jahrhunderte? Fehlanzeige. So begannen die beiden Historiker, die Streckenführung nach eigenen Kriterien zu rekonstruieren: Sie suchten nach Herbergen, Spitälern und Hospizen, die nachweislich einst Pilger aufnahmen. Sie hielten Ausschau nach kleinsten Zeichen des Jakobuskults, suchten nach Kunstwerken, Wandmalereien, Statuen in Kirchen, Klöstern und an Gebäuden. Und sie durchforsteten die Ortschaften nach Straßenbezeichnungen, die auf die Pilger verweisen. „Palatia Sacra“ heißt zudem ein Projekt der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte, das den beiden half – erforscht wird hier bis heute die Bedeutung von Kirchen und Klöstern in der Pfalz. Allerdings nicht aus heutiger Sicht, sondern aus der des Mittelalters. „Das hat uns sehr geholfen, denn vieles, was vor Jahrhunderten sozusagen ein Hot-Spot der Religiosität war, kann inzwischen längst eine Ruine oder sogar vergessen sein.“

„Dreh- und Angelpunkt der Routen ist Speyer“

Damals wie heute geht es durch die Pfalz auf zwei Routen: Einer nördlichen, die über Neustadt, Lambrecht, Erfenstein, Elmstein, Johanniskreuz und Landstuhl führt. Und auf einer südlichen, die am Haardtrand entlang von Germersheim über Herxheim, Mörlheim, Leinsweiler, Klingenmünster und Bad Bergzabern, Fischbach und Eppenbrunn reicht. Am ehemaligen Kloster Hornbach laufen beide Routen dann zusammen – von dort aus geht es weiter Richtung Frankreich. „Pilger aus dem pfälzischen Raum kamen sicherlich die alte Römerstraße am linken Rheinufer entlang, also aus Richtung Mainz und Worms“, sagt Ammerich. Und egal aus welcher Himmelsrichtung sie die Pfalz schließlich ansteuerten, eines war und ist sicher: Dreh- und Angelpunkt der Routen ist Speyer.

In die Domstadt ist Hans Ammerich 1979 gekommen, da hatte er seine Ausbildung als Historiker und im Archivdienst gerade erst beendet. „Die Aufgabe war erst einmal, die vielen verschiedenen historischen Bestände des Bistums zusammenzuführen“, erinnert er sich. Als Experte für die pfälzische Landes-, Kirchen-, Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte ist Ammerich weit über die Region hinaus bekannt – 2015 wurde er dafür auch vom Bezirksverband Pfalz für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Noch heute sitzt er fast täglich am Schreibtisch und schreibt Aufsätze und Bücher. „Durch die Kriege ist die Pfalz auch eine Region der krassen Umbrüche“, sagt Ammerich. Das interessiere ihn bis heute in seiner Arbeit, die im Grunde genommen nie zu Ende geht – der Weg ist eben auch das Ziel im Leben eines Historikers.

Hans Ammerich kam 1979 in die Domstadt und ist als Experte für die pfälzische Landes-, Kirchen-, Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte über die Region hinaus bekannt.

Wenige Meter vom Bistumsarchiv, das in der Kleinen Pfaffengasse sitzt, werden im Dom-Shop Jakobsmuscheln und Pilgerausweise verkauft. „Die Kaisergrablege war ein bedeutender Marienwallfahrtsort, angeblich sogar mit wundersamer Wirkung“, erklärt Ammerich und lächelt. Bis zur Zerstörung durch die Franzosen hatte es in der Krypta des Domes nachweislich einen Jakobus-Altar gegeben. Die Motivation, sich auf die lange Reise nach Spanien zu begeben, war für die Pilger allerdings sehr unterschiedlich: „Es gab Sühnewallfahrten, um Buße zu tun, Reisen als Zeichen der Dankbarkeit etwa nach einer schweren Krankheit oder sogar Pilgerfahrten im Auftrag eines anderen“, sagt Ammerich. Auf ihren Touren riskierten die Pilger viel. Davon zeugen nicht zuletzt die vielen Spitäler am Weg. Eines davon lag südlich vom Dom, die sogenannte „Deutschordensniederlassung“, in der Arme und Kranke eine Unterkunft fanden – und eben Pilger.

Wer genau hinschaut, findet auch in Speyer Spuren der Pilger – wie hier an der Ecke zur Schustergasse.

Im Historischen Museum der Pfalz ist der Säulenstumpf einer Pilgerdarstellung erhalten – wahrscheinlich stammt sie aus der mittelalterlichen Kirche St. Jakobus, die in der heutigen Heydenreichstraße gelegen haben muss, aber Anfang des 19. Jahrhunderts abgebrochen wurde. Im Stadtarchiv findet sich auch noch ein Siegel der Speyerer Jakobsbruderschaft, von denen es ähnliche Vereinigungen in Landau, Germersheim, Barbelroth und Roth gab. Ein paar Gehminuten nur sind es vom Archiv aus, dann hat Hans Ammerich eine weitere Spur im Stadtbild entdeckt: In der Nähe des Königsplatzes, an der Ecke zur Schustergasse, grüßt eine Hausfigur des Heiligen Jost von 1462 von oben herab die Passanten. Zurück in der Maximilianstraße wartet dann ein überlebensgroßer Pilger auf Besucher: „Zur 2000-Jahr-Feier hat Bischof Anton Schlembach die Figur der Stadt geschenkt“, sagt Ammerich. Die Bronzearbeit von Martin Mayer hat für die Erhabenheit des Doms allerdings keinen Blick – der Pilger mit seinem auffälligen Hut und dem Wanderstab wendet sich ab. So, als müsse er eilig weiter. In Richtung Santiago de Compostela.


Die Südroute des Pfälzer Jakobswegs

Die Nordroute des Pfälzer Jakobwegs

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