Georg Wiedemann weiß, wie man alten Dingen neues Leben einhaucht. Seit Jahrhunderten bewirtschaftet seine Familie den Doktorenhof im südpfälzischen Venningen. Mit 17 übernahm er den Betrieb – und begann, aus Wein Essig zu machen. Ganz traditionell, in Handarbeit und mit viel Zeit. Eine Erfolgsgeschichte.

Die Hände tief in die Hosentaschen vergraben steigt Georg Wiedemann die Stufen zum Gewölbekeller des Doktorenhofs hinab. Seit Generationen lagert seine Familie hier im „Sacrosanctum“, dem Allerheiligsten des Hofs, Wein in Holzfässern. „Schorsch“ Wiedemann, wie man ihn in Venningen nennt, atmet tief ein. Seine Nasenflügel weiten sich. Er saugt die säuerliche Schwere in sich auf.  „Hier unten gibt es nur Essigbakterien, die Luft ist ganz rein“, sagt Wiedemann.

Georg Wiedemann bewahrt Traditionen, ohne die Moderne aus den Augen zu verlieren.

Der 64-Jährige legt sich eine Kutte um, verschnürt die Kordel unterhalb seines Halses. „Damit schützen wir die Bakterien, zum Beispiel vor den Duftstoffen unseres Parfums oder anderen Ausdünstungen.“ Auch die Gruppen, die er durch den Keller führt, ziehen die Gewänder über, bevor Wiedemann die schwere Kellertür öffnet, hinter der die Fässer im Kerzenschein lagern. Seine Besucher – dazu gehören Touristen aus den USA und China oder Geschäftskunden, die in der Region zu tun haben. Aber auch Tagesausflügler und Spitzenköche, die Wiedemanns Essige in den Küchen ihrer Restaurants verarbeiten.

Im „Sacrosanctum“, dem Allerheiligsten des Hofs, reift der Wein in Holzfässern.

„Nach einer gewissen Zeit im Keller kann man wieder besser durchschnaufen“, sagt Wiedemann. Und: riechen. Der Essig wirke wie eine schleimlösende Arznei. Mehr noch: „Die Heilwirkung des Essigs ist seit Jahrtausenden bekannt. Viele historische Größen wussten davon.“ Römische Chronisten etwa berichten von Wundreinigungen mit Essig in der Antike. Aus der Renaissance sind Essig-Waschungen überliefert.

„Essig wärmt den Körper von innen und erzeugt eine wahnsinnige Fülle darin. Er regt den Stoffwechsel an und wirkt reinigend“, sagt Wiedemann und legt eine Hand auf eines der Holzfässer. In ihnen gären Riesling, Gewürztraminer, Spätburgunder und Ortega. Die Fässer sind halb gefüllt. „Der Essig braucht Sauerstoff, er muss oxidieren können.“

„Früher oder später wird ohnehin jeder Wein zu Essig. Außer, er wird vorher getrunken“

Hier vergärt der Wein zu Essig, spontan, ohne den Zusatz von Reinzuchthefe, lediglich mit „Essigmutter“ angereichert – selbstgezüchteten Essigsäurebakterien, die den Alkohol zersetzen und dabei helfen, ihn in Essigsäure umzuwandeln. „Früher oder später wird ohnehin jeder Wein zu Essig. Außer, er wird vorher getrunken“, sagt Wiedemann und lacht. 15 Monate lagert der Wein im ersten Raum des Kellergewölbes. Gärend hat er hier schon einige Etappen hinter sich.

Farb- und Aromenspiele: Die „Essigmutter“.

Am Doktorenhof beginnt die Lese spät, wenn es in den umliegenden Weinbergen schon still geworden ist. Wenn die Trauben fast schon Rosinen sind. Weil ihr Saft dann besonders süß ist. Nach der Lese wandern die Trauben in eine Kelter aus Stahl – ein Nachbau aus dem 16. Jahrhundert. Sie presst ein einziges Mal, von oben nach unten, arbeitet langsam und mit wenig Druck, drückt so weniger Gerb- und Bitterstoffe aus den Kernen. Die Weine – und Essige – schmecken später weniger herb.

Tradition und Moderne – auf dem Doktorenhof ein bereicherndes Nebeneinander.

Neben der Keltermaschine reihen sich Stahltanks in der lichtdurchfluteten Halle aneinander. „Wir sind der Tradition sehr verpflichtet und wollen diese auch leben. Auf der anderen Seite sind wir natürlich auch Teil der Gegenwart und brauchen Dinge, die modern sind. Genau das ist das Spannende“, sagt Wiedemann. Große Schwarz-Weiß-Aufnahmen auf Leinwänden zieren die kobaltblauen Wände der Halle. Familienaufnahmen. Wiedemanns Enkelin Ariane. Sein Schwiegersohn im Wingert. Die Familiengeschichte ist eng mit dem Doktorenhof und seinen Weinbergen verwoben. Um 1600 taucht die Familie erstmals in alten Lage-Registern auf, einige Jahrzehnte nach dem ersten „Doktor“ des Hofs, der dem Hof seinen Namen gab: Florenz von Venningen. „Ich liebe meine Arbeit, weil ich weiß, dass es eine alte Arbeit ist. Hier stecken meine Urgroßeltern, mein Großvater und meine Großmutter drin und gleichzeitig weiß ich, dass meine Tochter Cathrin sie im gleichen Bewusstsein weiterführt“, sagt Wiedemann. Elf Mitarbeiter beschäftigt er, einige bereits seit über 30 Jahren. Größer werden wollen sie nicht, am Doktorenhof. Wiedemann ist zufrieden mit dem, was er hat.

Alte Gegenstände, alte Bücher, alte Schriften – Georg Wiedemann durchforstet oft Flohmärkte nach antiken Schätzen.

Ohnehin gilt allem Alten Wiedemanns Faszination – alten Gebäuden, alten Büchern, alten Schriften. Er schreibt Sütterlin, durchforstet Flohmärkte nach antiken Gegenständen. Dabei kultiviert er stets auch das Mystische. Gregorianische Gesänge hallen durch den Gewölbekeller. Hintergrundmusik für die sauren Tropfen, die nach über einem Jahr in kleine Barrique-Fässer wandern. Zwischen fünf und acht Jahre lang bleibt der Wein hier, gärt weiter, nimmt die Gerbstoffe aus dem Holz in sich auf. Bis zu zehn Jahre dauert es, bis der Essig fertig ist. Mit konventionellen Methoden lassen sich Kräuteressige in zwei bis drei Tagen herstellen. Und so gibt es weltweit nur wenige Essighersteller wie den Doktorenhof.

Die Kräuterkammer – selbst die Bilder sind aus Essig und Öl entstanden, angereichert mit Farbpigmenten.

Wiedemann öffnet die Tür zur Kräuterkammer. Für die Besucher des Gewölbekellers reihen sich hier Patchouli, Yasmin und Weideröschen in Gläsern aneinander. Die Wände zieren florale Muster auf Leinwand. Gemalt hat sie Georg Wiedemann. Natürlich mit Essig und Öl, angereichert mit Farbpigmenten. Im hinteren Teil des Hofs gibt es noch eine zweite, die echte Kräuterkammer, in der sich Kisten mit Gewürzen bis zur Decke stapeln. Ingwer aus China, Vanilleschoten von den Seychellen, Salbei aus Saudi-Arabien. Die Hersteller hat Georg Wiedemann sorgfältig ausgesucht. Viele hat er selbst auf Reisen ausgekundschaftet. Das wohl teuerste Gewürz dort bauen die Wiedemanns selbst an: Safran. Aus 170 000 Blüten ernten sie 1,2 Kilo pro Jahr. „Das Gewürz hat eine lange Tradition in der Pfalz. Durch den Lößlehmboden hier schmeckt er weniger dumpf und fruchtiger als der persische Safran.“

In seiner Kräuterküche verwandelt „Schorsch“ Wiedemann den vergorenen Wein in feinsten Essig. 45 verschiedene Sorten hat er im Angebot, über 200 umfasst das Sortiment. Jedes Jahr kommen zwei bis drei neue hinzu. Seine Essige tragen Namen wie die „Zitronenbraut“, „Engel küssen die Nacht“ oder der „Vatermörder“. Letzterer hat Georg Wiedemann besonders viele Nerven gekostet. „Ich habe ihn immer wieder in die Ecke geworfen und neu hervorgeholt.“ 19 Bitterkräuter vereint der Essig in sich. Die Herznote: Sternanis, Nelke und Zimt. Die Kopfnote: Kardamon. Der „Vatermörder“ schmeckt nach Weihnachten, warm und würzig. Und bald wird es auch zu ihm ein Essig-Märchen geben, die man sich in Venninger Restaurants erzählt oder in Wiedemanns Koch- und Märchenbuch nachlesen kann. Denn: „Wir entwickeln Neues aus Dingen, die eigentlich schon sehr alt sind.“


www.doktorenhof.de

Ungewöhnliche Rezepte für Essig-Cocktails

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