Schlittenhunde sind Jürgen Lübers Leidenschaft. Seit über 30 Jahren trainiert er im Winter fast jeden Morgen mit einem Gespann auf den Rheinwiesen bei Lampertheim-Hofheim. Eine ungewöhnliche Fahrt über die raureifbedeckte Maulbeeraue.

Außerhalb, lautet die Adresse. Wetzelhecke. Und das Haus von Jürgen Lüber liegt auch genau so, wie die Adresse vermuten lässt. Ein Feldweg führt hin, der irgendwann nur noch aus Schotter und Matschpfützen besteht. Vor dem Haus Acker um Acker, dahinter die Bahntrasse Worms-Bensheim. Gerade kämpft sich die Morgensonne durch den Nebel und lässt den Raureif von den Blättern tropfen. Auf der Rheinwiese wenige hundert Meter weiter grasen Rehe. Eine Amsel singt, Meisen zwitschern. Idyllisch ist es hier. Wenn nicht gerade ein Training ansteht.

Laut bellend rennen die Hunde durcheinander. Lüber geht zu einer Tafel, setzt in zwei Reihen kleine Holzschilder mit Namen ein. Dann ruft er sie auf, nacheinander. „Circe!“ – aus dem Gewusel löst sich eine Hündin und schießt auf Lüber zu. Er krault sie zur Begrüßung, legt ihr ein Geschirr an. Weiter geht es. „Yeli!, „Ucko!“ Vor Lüber tänzelt Wumm und bellt. Er kann es kaum erwarten, bis er an der Reihe ist. „Wilma!“ Niemand kommt. „Wilma, keine Ratten fangen!“ Irgendwann sind zehn Hunde startbereit, auch Wumm. Endlich. Lübers Freund Manfred Wetzel öffnet das Tor, die Hunde verstummen schlagartig – und rennen los.

Neun Scandinavian Hounds, auch europäische Schlittenhunde genannt, und ein Siberian Husky, Wetzels Hund, ziehen mit fliegenden Beinen davon. Die Scandinavian Hounds sind deutlich schlanker als der Husky, die Beine sind länger, das Fell kürzer. „Und sie sind schneller, ausdauernder und auch fixer im Kopf“, erklärt Lüber. Heute ziehen die Hunde einen Quad im Leerlauf. Der Boden ist zu matschig, die Pfützen zu groß für den tiefliegenden Trainingswagen. Einen Schlitten haben Lübers Hunde zum letzten Mal 2009 über die Rheinwiesen gezogen. „Weißt du noch?“ Später, beim Frühstück am Kamin, schaut Lüber seinen Freund an. Wetzel nickt und lächelt. Damals! „Damals haben wir auf den überfluteten und zugefrorenen Rheinwiesen noch Eishockey gespielt.“ Lüber holt ein Beweisfoto.

Heute ist der Rentner schon froh, wenn es im Winter mal unter null Grad hat. Er trainiert immer in den Morgenstunden, kurz nach Sonnenaufgang. 5,5 Kilometer dreht er heute, kreuz und quer über die Rheinwiesen. Eine kleinere Runde, das Quad ist schwer – die Hunde haben einiges zu ziehen und kommen dennoch auf rund 20 Stundenkilometer. Hinauf geht es auf den Damm. „Försiktig!“ ruft Lüber. Was für die Hunde so viel heißt wie: „Achtung, gleich kommt ein Richtungsbefehl!“ Dann folgen kurze Kommandos. „Haw“ für links, „Gee“ für rechts, „Go Ahead“ für geradeaus. Ohne zu zögern folgen die Hunde. Egal ob ein Weg vor ihnen liegt, ein Trampelpfad oder einfach nur Wiese. Egal ob links Schafe weiden, ein Reh vor ihnen über den Weg hüpft oder ein nicht angeleinter Hund wild kläffend angeschossen kommt. Sie tun einfach das, was sie am liebsten tun: rennen.

So sieht es aus, wenn Jürgen Lüber mit seinen Hunden bei idealen Bedingungen unterwegs ist. Hier 2014 in den Südtiroler Alpen.

Über eine Brücke mit Kopfsteinpflaster ziehen die Hunde das Quad auf die Maulbeeraue. Eine Rheininsel, die sich vom Lampertheimer Stadtteil Rosengarten bis auf die Höhe des Bibliser Stadtteils Nordheim erstreckt. Die Maulbeeraue gehört zum „UNESCO Global Geopark Bergstraße-Odenwald“ und steht unter Naturschutz. Der namensgebende Maulbeerwald wurde Ende des 18. Jahrhunderts fast vollständig abgeholzt. Übrig blieb eine idyllische Wiesenlandschaft, in der Rehe, Füchse und Fasane leben. Noch hält der Raureif die Gräser umhüllt. Der Rhein dampft, das Industriegebiet auf Wormser Seite ist in dichte Wolken gehüllt. In den alten Rheinarmen waten Reiher.

Es war Zufall, dass Lüber mit seiner Partnerin Renate und den Hunden hier gelandet ist. Eigentlich wollte er in das Industriegebiet von Hofheim, wo er als Hausarzt tätig war, ziehen. Doch über Umwege bekam er die Möglichkeit, hier im Nirgendwo ein Haus zu bauen. „Ein Glücksfall“, sagt Lüber heute. Und er freut sich noch immer jedes Mal darüber, wenn er mit den Hunden über die Maulbeeraue fliegt. 17 Hunde leben mit dem Paar auf dem riesigen Grundstück mit zahlreichen Bäumen. Die Jüngsten sind sieben Jahre alt, die ältesten 14. Ein stolzes Hundealter. Taisto ist blind und hört nicht mehr so gut. Olle hat eine Sprunggelenksarthrose. Mit ihnen trainiert Lüber nicht mehr. „Sie gehen jetzt Gassi – wie gewöhnliche Hunde.“ Seit ihrer Geburt sind die Hunde bei ihnen und sie werden bis an ihr Lebensende bleiben.

„Ich will so lange wie möglich unterwegs sein mit den Hunden.“

Er sagt das ohne Verbitterung. Die Wände seines Hauses hängen voll mit Erinnerungen, die Vitrine im Wohnzimmer ist zum Bersten mit Pokalen gefüllt. Er hat viel erlebt mit seinen Hunden. Ist mit 40 Stundenkilometern schwarze Skipisten hinuntergebrettert, auf dem Alpen-Trail auch mal 60 Kilometer am Stück gefahren, wurde mehrmals Deutscher Meister und bei der EM 2010 in Ungarn Dritter, war in Alaska auch mal bei minus 30 Grad unterwegs, fuhr über die olympische Biathlonstrecke von Lake Placid und hat sich in der Schweiz die Finger teilweise erfroren. Er war lange Präsident des Verbands Deutscher Schlittenhundesport Vereine und leitet mit Manfred Wetzel noch immer den Rheinland-Pfälzischen Schlittenhundesportverein. Er muss nichts mehr erreichen. Außer: „So lange wie möglich unterwegs sein mit den Hunden. So lange die alten Knochen noch mitmachen.“ Er meint die von Hunden und Mensch. Lüber lacht. Es vergeht kaum eine Minute in der er das nicht tut.

Alles begann 1971. Als der Bruder von Renate eine Hündin aus dem Tierheim mitbrachte. Das Paar verliebte sich sofort in Rexi, ein Siberian Husky. „Sie hat uns fasziniert – das sind schon außergewöhnliche Hunde.“ Vier Jahre später kam Rexis erster Wurf auf die Welt. „Uns war klar: Wenn wir die Hunde artgerecht halten wollen, brauchen sie Bewegung. Viel Bewegung.“ Sie kauften sich einen Trainingswagen und mit der ersten Fahrt packte Lüber die Leidenschaft für den Sport. 1977 nahm er an seinem ersten Rennen teil. Über 500 folgten im Laufe der Jahre. Im Winter, wenn die Temperaturen einstellig werden, trainiert er fast jeden Morgen. Früher, als er noch als Arzt tätig war, vor der Arbeit. Mit Stirnlampe.

Nach dem Training nehmen einige Hunde erstmal ein Bad im Planschbecken, danach gibt es für alle Leckerlis und eine „Suppe“: in Wasser aufgelöstes Trockenfutter. In den nächsten Minuten hört man nur noch Zungen schlappern. An der Wetzelhecke kehrt wieder Ruhe ein. Bis zum nächsten Training.


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