Sonnenuhren zeigen das Fortschreiten der Tageszeit von ihrer schönsten Seite. Im südhessischen Birkenau gibt es über 200 der lautlosen Zeitmesser. So viele wie in keinem anderen Dorf in Deutschland.

Sie sind leicht zu übersehen. Unauffällig und lautlos verrichten sie ihren Dienst. Wer auf der Hauptstraße durch Birkenau fährt, wird vermutlich zuerst die Sonnenuhr an dem Haus mit der Nummer 101 bemerken, direkt an einer großen Kreuzung. Kreisrund, mit einer goldenen Sonne im Zentrum, die Strahlen eingemeißelt in die Hauswand. Rundherum ein himmelblaues Band mit Tierkreiszeichen. Darunter ein Spruch, in alter Schrift: „Gott schuf die Zeit – von Eile hat er nichts gesagt.“ Eine Erinnerung – und eine Einladung.

Eine der größten und auffälligsten Sonnenuhren von Otto Seile in Birkenau, direkt an der Hauptstraße.

Denn wer sich aus dem hektischen Durchgangsverkehr der Ortschaft ausfädelt, sich Zeit nimmt, eintaucht in die Birkenauer Straßen und Gassen, wird sie plötzlich überall entdecken: Sonnenuhren. In Parks und Gärten, auf Trafohäuschen und Natursteinen, aber vor allem an Hauswänden. Es sind hunderte. 205 um genau zu sein. Zumindest stehen so viele an diesem Nachmittag auf der Liste von Monika Lübker. „Eigentlich wären es noch viel mehr“, sagt die Vorsitzende des örtlichen Sonnenuhrenvereins. Doch viele ältere Zeitmesser gibt es schon nicht mehr. Weil Häuser renoviert und isoliert wurden, die Farben verblassten oder neue Besitzer sie einfach nicht mehr im Garten haben wollten. Und trotz dieser Verluste kommen in Birkenau Jahr für Jahr neue Sonnenuhren hinzu. Nur in Bremen soll es mehr Exemplare geben – allerdings hat die Stadt auch ein paar Hunderttausend Einwohner mehr.

Monika Lübker, Vorsitzende des Sonnenuhrenvereins, im Sonnenuhren-Garten.

Alles begann 1943, erzählt Monika Lübker. Damals ließ sich Otto Seile, der viele Jahre als Regierungsbaumeister in Darmstadt gelebt und gearbeitet hat, in Birkenau nieder. Er wollte hier im Odenwald seinen Ruhestand genießen. Die Südwand seines Hauses im Dornweg verzierte er mit einer Sonnenuhr. Von einer goldenen Sonne aus warf der Zeiger seinen Schatten auf ein gusseisernes Zahlenband. Seile war fasziniert von den lautlosen Zeitmessern und dem System dahinter – und seine Begeisterung war ansteckend. Schon kurze Zeit später baten ihn Nachbarn darum, doch auch für ihr Haus eine Sonnenuhr zu konstruieren.

Nach 18 Jahren stellte Seile, meist in Zusammenarbeit mit dem Maler Schmitt und dem Schmied Gölz, bereits die 25. Sonnenuhr fertig. „Er kletterte auch mit über 80 Jahren noch auf Leitern und brachte die Sonnenuhren selbst an die Hauswände“, erzählt Monika Lübker. Und das nicht nur in Birkenau. Seile-Uhren gibt es in mehreren europäischen Ländern und sogar in den USA und Südamerika. In den 70er Jahren wurde Birkenau als „Dorf der Sonnenuhren“ deutschlandweit bekannt und lockte zahlreiche Reisebusse an. 1971 gründete Otto Seile nur einige Kilometer weiter in der Fuchs’schen Mühle den Fachkreis Sonnenuhren der Deutschen Gesellschaft für Chronometrie. Doch dann, in den 80er Jahren, verebbte der Boom allmählich und die Sonnenuhren gerieten ein wenig in Vergessenheit.

„Sonnenuhren zeigen die wahre Ortszeit“

Monika Lübker zog in den 90er Jahren nach Birkenau. Sie erinnert sich noch genau daran, als sie zum ersten Mal an dem großen Schild vorbeifuhr, das Besucher im Dorf der Sonnenuhren willkommen heißt. „Ich war erstmal verwundert – denn davon hatte ich zuvor nichts gehört.“ Doch vor allem war sie neugierig und wollte mehr darüber erfahren. Vielleicht auch, überlegt sie später laut, weil ihr Vater Uhrmacher war und sie diese völlig andere Art der Zeitmessung faszinierte.

Das Uhrwerk der Sonnenuhr ist das System, das unsere Erde mit der Sonne bildet.

Denn während ihr Vater mit winzigen Zahnrädern hantierte, ist das Uhrwerk der Solarchronometer um ein Vielfaches größer. Es ist das System, das unsere Erde mit der Sonne bildet. Nach den ersten schnellen Worten und einem kurzen Blick in die verwirrten Gesichter ihrer Gesprächspartner, hält Monika Lübker inne und holt einen kleinen Globus mit aufgeklebten Männchen und einen Holzstab aus der Tasche. „Der Schattenstab muss immer von Norden nach Süden zeigen“, erklärt sie und richtet ihn aus. „Dazu muss er parallel zur Erdachse sein – und dieser Winkel entspricht exakt dem jeweiligen Breitengrad.“ Am Äquator steht der Stab also waagrecht, am Nordpol senkrecht und in Birkenau in einem Winkel von etwa 50 Grad. Der Schatten dieses Stabs fällt dann auf eine Zahlenreihe, deren Skala wiederum der Längengrad bestimmt, und zeigt so die Uhrzeit an – und zwar genauer als gewöhnliche Uhren.

„Sonnenuhren geben Auskunft über die wahre Ortszeit und nicht über die Zeit einer bestimmten Zone“, erklärt Monika Lübker. „Während eine Armbanduhr in Görlitz – am östlichen Rand unserer mitteleuropäischen Zeitzone – und in Birkenau 13 Uhr anzeigt, ist es in Birkenau nach dem Lauf der Sonne eigentlich erst 12.35 Uhr.“ Die Vereinsvorsitzende führt zu einer Bernhardtschen Präzisions-Sonnenuhr in einem kleinen Park direkt an der Weschnitz, die sich durch den Ort schlängelt, und erklärt mit großen Gesten das Prinzip dahinter. Der Schattenwerfer ist hier kein Stab, sondern wie ein Kegel geformt – und an seiner Schattenkante lässt sich die Uhrzeit minutengenau ablesen. „Sie gilt in der Astronomie als exakteste Sonnenuhr. Da stecken hochkomplexe mathematische Berechnungen dahinter.“ Genau das fasziniert Lübker an Sonnenuhren: „Sie sind so vielfältig und man kann sie unter ganz unterschiedlichen Aspekten betrachten: Aus mathematischer Sicht, aber auch aus historischer, astronomischer, künstlerischer oder handwerklicher Sicht.“

Auch eine Bernhardtsche Präzisions-Sonnenuhr braucht Sonnenschein – dann zeigt sie die Zeit jedoch minutengenau an.

Die Sonnenuhren ließen Monika Lübker nicht mehr los. Sie engagiert sich auch in der Lokalpolitik und ist Mitbegründerin des Arbeitskreises Agenda 21, der sich mit der Ortsentwicklung beschäftigt. Bei den Treffen hakte sie immer wieder bei alteingesessenen Birkenauern nach. Die Informationen waren zunächst spärlich, doch schließlich hielt sie eine Liste der Sonnenuhren in den Händen. „Für mich ist das ein Dorfkulturerbe – ich wollte das Thema wiederbeleben.“ Monika Lübker verschwendete keine Zeit. Ihr Sohn half ihr, eine Homepage aufzusetzen und sie begann, die Liste der Sonnenuhren zu digitalisieren, zu vervollständigen und weitere Informationen zu sammeln. Schnell fand sie Mitstreiter – vor allem in Adolf Frei. Er lernte Otto Seile noch persönlich kennen, ließ sich von seiner Begeisterung anstecken und konstruiert heute selbst Sonnenuhren. 2014 gründeten sie mit weiteren Bürgern den Sonnenuhrenverein. „Wir bauen neue Uhren und setzen uns dafür ein, das alte restauriert werden und ungewollte eine neue Heimat finden.“

Monika Lübker erklärt das Prinzip einer Monumentaluhr von Vinzenz Philippi.

Zum Beispiel hier im Sonnenuhrengarten unweit des Birkenauer Bahnhofs. Er ist auch Ausgangspunkt für Führungen – oder Erkundungen auf eigene Faust nach den Wegbeschreibungen des Vereins. Der Garten entstand, als mehrere Monumentaluhren aus dem Nachlass von Vinzenz Philippi einen neuen Platz suchten. Er hatte auch Wasser-, Feuer- und Sanduhren konstruiert und war ein Weggefährte von Otto Seile. Schnell war klar, dass seine großen, aufwendig verzierten Uhren in Birkenau eine ständige Bleibe finden sollten. Auch die älteste – und wohl unauffälligste – Sonnenuhr des Dorfs steht hier. Ein schlichter Stein von 1773, der früher in einem Kloster die Zeiten zum Arbeiten, Beten und Essen anzeigte.

Auch die Unterkunft des Birkenauer Ortsvereins des Deutschen Roten Kreuzes ziert eine Sonnenuhr – mit einem Porträt Henri Dunants, dem Gründer des DRK.

Doch es gibt noch viel mehr Besonderheiten in Birkenau. Sonnenuhren mit zwei Skalen etwa, eine für die Sommerzeit und eine für die Winterzeit. Oder Chronometer, die sich über zwei Seiten eines Hauses erstrecken und auf der einen Hauswand die Vormittagszeit anzeigen, auf der anderen Seite die Nachmittagszeit. „Es gibt sogar eine Nordsonnenuhr“, erklärt Monika Lübker. Doch die sei nur etwas für Frühaufsteher – hier wirft die Zeit nur im Sommer zwischen 4 und 5 Uhr ihren Schatten. Die neuen Zeitmesser werden meist auf Plexiglas gezogen und ganz nach dem Wunsch ihrer Besitzer gestaltet. Und so haben in Birkenau selbst Supermärkte ihre eigenen Sonnenuhren. „Immer wenn neu gebaut wird, versuchen wir die Besitzer zu motivieren, eine Uhr anbringen zu lassen“, sagt Monika Lübker. Dabei, gibt sie zu, kann sie durchaus hartnäckig sein. Sie lacht. „Aber die meisten lassen sich doch sehr leicht überzeugen.“ Denn die Birkenauer haben ein gemeinsames Ziel – den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde als Dorf mit den meisten Sonnenuhren.


www.sonnenuhren-birkenau.de

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